Die Pest (German Edition)
der ihm die neue Entdeckung meldete. «Jetzt werden sie zu zweien und zu dreien gefunden. Aber in den anderen Häusern ist es dasselbe.»
Er wirkte abgespannt und besorgt. Er rieb sich mechanisch den Hals. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Concierge konnte natürlich nicht sagen, es gehe ihm gar nicht gut. Bloß fühle er sich nicht ganz auf der Höhe. Seiner Ansicht nach sei es die Moral, die keine Ruhe ließ. Diese Ratten hätten ihm einen Schlag versetzt, und alles würde viel besser, wenn sie verschwunden sein würden.
Aber am nächsten Morgen, dem 18. April, fand der Arzt, der seine Mutter vom Bahnhof abgeholt hatte, Monsieur Michel mit noch eingefallenerem Gesicht vor: Vom Keller bis zum Dachboden waren die Treppen von einem Dutzend Ratten übersät. Die Mülltonnen der Nachbarhäuser waren voll davon. Die Mutter des Arztes nahm die Nachricht ohne Verwunderung auf.
«So etwas kommt vor.»
Sie war eine kleine Frau mit silbergrauem Haar und sanften schwarzen Augen.
«Ich bin froh, dich wiederzusehen, Bernard», sagte sie. «Daran können die Ratten nichts ändern.»
Er pflichtete ihr bei; es stimmte, dass mit ihr immer alles leicht erschien.
Rieux rief dennoch die kommunale Abteilung für Rattenbekämpfung an, deren Leiter er kannte. Ob er von diesen Ratten gehört habe, die in großer Zahl im Freien starben? Mercier, der Abteilungsleiter, hatte davon gehört, und in seiner eigenen Abteilung, die nicht weit von den Kais lag, hatte man etwa fünfzig entdeckt. Er fragte sich jedoch, ob es ernst sei. Darüber konnte Rieux nicht entscheiden, aber er meinte, die Abteilung für Rattenbekämpfung müsse einschreiten.
«Ja», sagte Mercier, «mit einer Anordnung. Wenn du glaubst, dass es wirklich der Mühe wert ist, kann ich versuchen, eine Anordnung zu bekommen.»
«Das ist immer der Mühe wert», sagte Rieux.
Seine Putzfrau hatte ihm gerade berichtet, man habe in der großen Fabrik, in der ihr Mann arbeitete, mehrere hundert tote Ratten aufgesammelt.
Etwa um diese Zeit jedenfalls fingen unsere Mitbürger an, sich zu beunruhigen. Ab dem 18. nämlich spien die Fabriken und Lagerhäuser tatsächlich Hunderte von Rattenkadavern aus. In einigen Fällen war man gezwungen, die Tiere, deren Todeskampf zu lange dauerte, totzuschlagen. Aber von den Außenbezirken bis zur Stadtmitte, überall, wo Doktor Rieux hinkam, überall, wo unsere Mitbürger zusammenkamen, warteten die Ratten zuhauf, in den Mülltonnen oder in langen Reihen im Rinnstein. Von dem Tag an griff die Abendpresse die Sache auf und fragte, ob die Stadtverwaltung vorhabe, zu handeln oder nicht und welche Notmaßnahmen sie ins Auge gefasst habe, um ihre Bürger vor dieser widerlichen Invasion zu schützen. Die Stadtverwaltung hatte nichts vor und hatte überhaupt nichts ins Auge gefasst, begann aber damit, ihren Rat zu versammeln, um zu beraten. Der Abteilung für Rattenbekämpfung wurde die Anordnung gegeben, die toten Ratten allmorgendlich in der Dämmerung einzusammeln. Nach dem Einsammeln sollten zwei Wagen der Abteilung die Tiere zur Müllverbrennungsanlage bringen, um sie zu verbrennen.
Aber an den folgenden Tagen verschlimmerte sich die Situation. Die Zahl der eingesammelten Nager nahm zu, und der Ertrag war jeden Morgen reicher. Vom vierten Tag an kamen die Ratten in Gruppen zum Sterben heraus. Aus den Verschlägen, den Untergeschossen, den Kellern, der Kanalisation kamen sie in langen taumelnden Reihen, um ans Tageslicht zu wanken, sich um sich selbst zu drehen und in der Nähe der Menschen zu sterben. Des Nachts hörte man in den Korridoren oder Gassen deutlich ihre hohen Todesschreie. Am Morgen fand man sie im Rinnstein hingestreckt, mit einem kleinen Blutflor auf der spitzen Schnauze, die einen aufgebläht und faulig, die anderen steif und mit noch gesträubten Barthaaren. In der Stadt selbst wurden sie häufchenweise auf Treppenabsätzen und in Höfen aufgefunden. Vereinzelt kamen sie auch zum Sterben in Behördenhallen, Schulhöfe und manchmal in Straßencafés. Unsere bestürzten Mitbürger entdeckten sie an den meistbesuchten Orten der Stadt. Die Place d’Armes, die Boulevards, die Promenade Front-de-Mer waren hier und da verunreinigt. Im Morgengrauen von den toten Tieren gereinigt, erlebte die Stadt, wie sie im Lauf des Tages erst vereinzelt, dann immer zahlreicher wieder auftauchten. Mehr als einem nächtlichen Spaziergänger widerfuhr es daher auf den Bürgersteigen, dass er unter seinem Fuß die nachgiebige Masse eines noch
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