Die Pest (German Edition)
sanft.
Unter den Tränen kehrte, etwas verkrampft, das Lächeln zurück. Sie holte tief Luft:
«Geh, alles wird gut werden.»
Er drückte sie an sich, und jetzt, auf dem Bahnsteig, auf der anderen Seite des Fensters, sah er nur noch ihr Lächeln.
«Ich bitte dich», sagte er, «gib auf dich acht.»
Aber sie konnte ihn nicht hören.
Auf dem Bahnsteig, in der Nähe des Ausgangs, traf Rieux auf Monsieur Othon, den Untersuchungsrichter, der seinen kleinen Jungen an der Hand hielt. Der Arzt fragte ihn, ob er verreise. Monsieur Othon, der, groß und dunkel, halb aussah wie das, was man früher einen Mann von Welt nannte, halb wie ein Leichenträger, antwortete liebenswürdig, aber knapp:
«Ich warte auf Madame Othon, die meiner Familie ihre Aufwartung gemacht hat.»
Die Lokomotive pfiff.
«Die Ratten …», sagte der Richter.
Rieux machte eine Bewegung zum Zug hin, wandte sich aber wieder dem Ausgang zu.
«Ja», sagte er, «das ist nicht schlimm.»
Alles, was ihm von diesem Augenblick in Erinnerung blieb, war ein vorbeigehender Eisenbahnarbeiter, der eine Kiste voll toter Ratten unter dem Arm trug.
Am Nachmittag desselben Tages, zu Beginn seiner Sprechstunde, empfing Rieux einen jungen Mann, von dem man ihm sagte, er sei Journalist und sei schon am Morgen da gewesen. Er hieß Raymond Rambert. Klein, mit breiten Schultern, entschlossenem Gesicht und hellen, intelligenten Augen, trug Rambert sportlich geschnittene Kleidung und schien sich im Leben wohl zu fühlen. Er kam sofort zur Sache. Er recherchiere für eine große Pariser Zeitung über die Lebensbedingungen der Araber und wolle Informationen über ihre hygienischen Verhältnisse. Rieux sagte, sie seien nicht gut. Aber bevor er weiterredete, wollte er wissen, ob der Journalist die Wahrheit schreiben dürfe.
«Sicher», sagte der andere.
«Ich meine: Können Sie ein vernichtendes Urteil aussprechen?»
«Vernichtend nicht, das muss ich einfach sagen. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.»
Leise sagte Rieux, ein solches Urteil sei tatsächlich unbegründet, aber mit dieser Frage wolle er nur wissen, ob Ramberts Berichterstattung rückhaltlos sein könne oder nicht.
«Ich lasse nur rückhaltlose Berichterstattung gelten. Ich werde die Ihre also nicht mit meinen Auskünften unterstützen.»
«Das ist die Sprache Saint-Justs», sagte der Journalist lächelnd.
Rieux sagte, ohne lauter zu werden, das wisse er nicht, aber es sei die Sprache eines der Welt, in der er lebte, überdrüssigen Menschen, der jedoch für seinesgleichen etwas übrig habe und entschlossen sei, was ihn anging, Ungerechtigkeit und Konzessionen abzulehnen. Rambert sah den Arzt mit hochgezogenen Schultern an.
«Ich glaube, ich verstehe Sie», sagte er schließlich im Aufstehen.
Der Arzt geleitete ihn zur Tür:
«Ich danke Ihnen, dass Sie es so aufnehmen.»
Rambert schien ungehalten zu werden:
«Ja», sagte er, «ich verstehe, verzeihen Sie die Störung.»
Der Arzt drückte ihm die Hand und sagte, es gebe eine lesenswerte Reportage über die Menge toter Ratten zu machen, die augenblicklich in der Stadt gefunden würden.
«Aha!», rief Rambert. «Das interessiert mich.»
Um siebzehn Uhr, als der Arzt wieder Krankenbesuche machen ging, begegnete er auf der Treppe einem noch jungen Mann von plumper Gestalt, mit einem schweren, zerfurchten Gesicht und dichten Augenbrauen. Er hatte ihn manchmal bei den spanischen Tänzern getroffen, die im obersten Stock seines Hauses wohnten. Jean Tarrou rauchte hingegeben eine Zigarette, während er den letzten Konvulsionen einer Ratte zusah, die auf einer Stufe zu seinen Füßen verendete. Er blickte ruhig und eindringlich mit seinen grauen Augen zu dem Arzt auf, sagte ihm guten Tag und fügte hinzu, dieses Auftauchen der Ratten sei eine merkwürdige Sache.
«Ja», sagte Rieux, «aber sie geht einem allmählich auf die Nerven.»
«In einer Hinsicht, Herr Doktor, nur in einer Hinsicht. Wir haben nie etwas Derartiges gesehen, das ist alles. Aber ich finde das interessant, ja, wirklich interessant.»
Tarrou fuhr sich mit der Hand übers Haar, um es nach hinten zu streichen, sah wieder die jetzt regungslose Ratte an und sagte lächelnd zu Rieux:
«Aber schließlich ist es vor allem die Sache des Concierge, Doktor.»
Eben den Concierge fand der Arzt vor dem Haus neben dem Eingang an die Wand gelehnt mit einem Ausdruck von Mattigkeit auf seinem sonst gut durchbluteten Gesicht.
«Ja, ich weiß», sagte der alte Michel zu Rieux,
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