Die Pest (German Edition)
Gleichzeitig mit der Unterstützung, die auf dem Luft- und Landweg geschickt wurde, prasselten allabendlich über den Äther oder in der Presse mitleidige oder bewundernde Kommentare auf die nunmehr einsame Stadt nieder. Und jedes Mal regte der Ton wie in einem Heldengedicht oder einer Preisrede den Arzt auf. Er wusste zwar, dass diese Besorgnis nicht geheuchelt war, aber sie konnte nur in der konventionellen Sprache Ausdruck finden, in der Menschen auszudrücken versuchen, was sie mit der Menschheit verbindet. Und diese Sprache passte nicht zu den täglichen kleinen Bemühungen von Grand zum Beispiel, da sie nicht veranschaulichen konnte, was Grand inmitten der Pest bedeutete.
Manchmal, wenn der Arzt um Mitternacht in der tiefen Stille der dann menschenleeren Stadt für einen zu kurzen Schlaf ins Bett ging, stellte er sein Radio an. Und von allen Enden der Welt, über Tausende von Kilometern, versuchten unbekannte brüderliche Stimmen unbeholfen ihre Solidarität auszudrücken und drückten sie tatsächlich aus, bewiesen aber gleichzeitig die schreckliche Unfähigkeit jedes Menschen, einen Schmerz, den er nicht sehen kann, wirklich zu teilen: «Oran! Oran!» Vergebens überquerte der Ruf die Meere, vergebens hielt Rieux sich wach – bald schwoll die Beredsamkeit an und hob noch deutlicher die wesentliche Trennung hervor, die aus Grand und dem Redner zwei Fremde machte. ‹Oran, ja, Oran! Nein›, dachte der Arzt, ‹zusammen lieben oder sterben, ein anderes Hilfsmittel gibt es nicht. Sie sind zu weit weg.›
Und was noch geschildert werden muss, bevor der Höhepunkt der Pest erreicht ist, während die Geißel alle ihre Kräfte sammelte, um sie auf die Stadt zu werfen und sie endgültig zu erobern, sind eben die langwierigen, verzweifelten und eintönigen Anstrengungen, die die letzten Individuen wie Rambert unternahmen, um ihr Glück wiederzufinden und der Pest jenen Teil von sich zu entreißen, den sie gegen jede Beeinträchtigung verteidigten. Das war ihre Art, die ihnen drohende Unterjochung abzuwehren, und obwohl diese Abwehr anscheinend nicht so wirksam war wie die andere, hatte sie nach Ansicht des Erzählers doch ihren Sinn und zeugte selbst in ihrer Nichtigkeit und in ihren Widersprüchen von dem, was damals an Stolz in jedem von uns war.
Rambert kämpfte dagegen, dass die Pest sich über ihn legte. Nachdem er den Beweis hatte, dass er mit legalen Mitteln nicht aus der Stadt herauskam, war er entschlossen, wie er Rieux sagte, andere Mittel anzuwenden. Der Journalist fing bei den Kellnern an. Ein Kellner im Café ist immer über alles auf dem Laufenden. Aber die Ersten, die er befragte, waren vor allem über die sehr schweren Strafen auf dem Laufenden, die bei derartigen Unternehmungen drohten. In einem Fall wurde er sogar für einen Provokateur gehalten. Er musste Cottard bei Rieux treffen, um etwas weiterzukommen. An jenem Tag hatten Rieux und er wieder über die vergeblichen Schritte gesprochen, die der Journalist bei den Behörden unternommen hatte. Einige Tage später traf Cottard Rambert auf der Straße und begrüßte ihn mit der Direktheit, die er neuerdings in allen seinen Beziehungen zeigte:
«Immer noch nichts?» hatte er gesagt.
«Nein, nichts.»
«Auf die Ämter kann man nicht zählen. Sie sind nicht in der Lage zu begreifen.»
«Das stimmt. Aber ich suche etwas anderes. Es ist schwierig.»
«Aha, ich verstehe!», sagte Cottard.
Er kannte eine Seilschaft und erklärte Rambert, der sich darüber wunderte, dass er seit langem in allen Cafés von Oran verkehre, dass er dort Freunde habe und über das Vorhandensein einer Organisation informiert sei, die sich mit solchen Aktionen befasst. Die Wahrheit war, dass Cottard, dessen Ausgaben jetzt seine Einnahmen überstiegen, sich auf Schwarzmarktgeschäfte mit rationierten Waren eingelassen hatte. So verkaufte er Zigaretten und minderwertigen Alkohol, deren Preise unentwegt stiegen und die dabei waren, ihm ein kleines Vermögen einzubringen.
«Sind Sie ganz sicher?», fragte Rambert.
«Ja, man hat es mir doch angeboten.»
«Und Sie haben es nicht genutzt?»
«Seien Sie nicht misstrauisch», sagte Cottard gutmütig, «ich habe es nicht genutzt, weil ich keine Lust habe wegzugehen. Ich habe meine Gründe.»
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:
«Wollen Sie meine Gründe nicht wissen?»
«Ich vermute, das geht mich nichts an.»
«In einer Hinsicht geht Sie das tatsächlich nichts an. Aber in einer anderen … Jedenfalls, als
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