Die Pest (German Edition)
ist unfähig, lange zu leiden oder glücklich zu sein. Er ist also zu nichts fähig, was Wert hätte.»
Er sah sie an und sagte dann:
«Was meinen Sie, Tarrou, sind Sie fähig, für eine Liebe zu sterben?»
«Ich weiß nicht, aber jetzt scheint es mir nicht so.»
«Sehen Sie. Und Sie sind fähig, für eine Idee zu sterben, das ist mit bloßen Augen zu sehen. Nun, ich habe genug von Leuten, die für eine Idee sterben. Ich glaube nicht an Heldentum, ich weiß, dass das leicht ist, und ich habe erfahren, dass es mörderisch ist. Was mich interessiert, ist, von dem zu leben und an dem zu sterben, was man liebt.»
Rieux hatte dem Journalisten aufmerksam zugehört. Ohne den Blick von ihm zu wenden sagte er sanft:
«Der Mensch ist keine Idee, Rambert.»
Der sprang mit vor Leidenschaft glühendem Gesicht vom Bett auf.
«Er ist eine Idee, und zwar eine beschränkte Idee, sobald er sich von der Liebe abwendet. Und gerade zur Liebe sind wir nicht mehr fähig. Damit müssen wir uns abfinden, Herr Doktor. Warten wir darauf, es zu werden, und wenn es wirklich nicht möglich ist, warten wir auf die allgemeine Erlösung, ohne den Helden zu spielen. Ich jedenfalls gehe nicht weiter.»
Rieux stand mit einem Ausdruck plötzlicher Erschöpfung auf.
«Sie haben recht, Rambert, vollkommen recht, und um nichts in der Welt möchte ich Sie von dem abbringen, was Sie tun werden, was mir gerecht und gut erscheint. Aber trotzdem muss ich es Ihnen sagen: bei alldem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.»
«Was ist Anstand?», sagte Rambert, plötzlich ernst.
«Ich weiß nicht, was er im Allgemeinen ist. Aber in meinem Fall weiß ich, dass er darin besteht, meinen Beruf auszuüben.»
«Ach!», sagte Rambert zornig. «Ich weiß nicht, was mein Beruf ist. Vielleicht bin ich tatsächlich im Unrecht, weil ich die Liebe wähle.»
Rieux sah ihm in die Augen:
«Nein», sagte er nachdrücklich, «Sie sind nicht im Unrecht.»
Rambert sah sie nachdenklich an.
«Ich vermute, Sie beide haben bei alldem nichts zu verlieren. Es ist leicht, auf der richtigen Seite zu sein.»
Rieux leerte sein Glas.
«Gehen wir», sagte er, «wir haben zu tun.»
Er ging.
Tarrou folgte ihm, schien sich aber im Hinausgehen anders zu besinnen, drehte sich zu dem Journalisten um und sagte:
«Wissen Sie, dass Rieux’ Frau einige hundert Kilometer von hier in einer Kurklinik ist?»
Rambert machte eine überraschte Geste, aber Tarrou war schon weg.
Am nächsten Tag in aller Frühe rief Rambert den Arzt an:
«Wären Sie einverstanden, wenn ich bei Ihnen mitarbeiten würde, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe, die Stadt zu verlassen?»
Am anderen Ende herrschte einen Moment Schweigen, und dann sagte Rieux:
«Ja, Rambert. Ich danke Ihnen.»
III
So wehrten sich die Gefangenen der Pest Woche um Woche so gut sie konnten. Und einige unter ihnen, wie Rambert, schafften es offensichtlich sogar, sich einzubilden, dass sie noch als freie Menschen handelten, dass sie noch wählen könnten. Tatsächlich aber konnte man zu jenem Zeitpunkt, Mitte August, sagen, dass die Pest sich über alles gelegt hatte. Es gab damals keine individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich die Pest und von allen geteilte Gefühle. Am stärksten waren das des Getrenntseins und des Exils, mit allem, was dies an Angst und Auflehnung mit sich brachte. Deshalb hält der Erzähler es auf diesem Höhepunkt der Hitze und der Krankheit für angebracht, die allgemeine Situation zu beschreiben und exemplarisch die Gewalttaten unserer lebenden Mitbürger, die Beerdigungen der Verstorbenen und das Leid der getrennten Liebenden.
In der Mitte jenes Jahres erhob sich der Wind und wehte mehrere Tage über die Peststadt. Der Wind wird von den Einwohnern von Oran besonders gefürchtet, weil er auf der Hochebene, auf der die Stadt erbaut war, keinem natürlichen Hindernis begegnet und sich so mit seiner ganzen Wucht in den Straßen verfängt. Die Stadt war nach diesen langen Monaten, in denen kein Wassertropfen sie erfrischt hatte, mit einem grauen Belag überzogen, der unter dem Druck des Windes abblätterte. So wirbelte er Staub- und Papierwolken auf, die gegen die Beine der seltener gewordenen Fußgänger peitschten. Man sah sie vorgebeugt, ein Taschentuch oder die Hand vor dem Mund, durch die Straßen hasten. Anstelle der
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