Die Pest (German Edition)
Zusammenkünfte, mit denen man versucht hatte, diese Tage, von denen jeder der letzte sein konnte, so weit wie möglich zu verlängern, begegnete man kleinen Gruppen von Leuten, die nach Hause oder ins Café eilten, sodass einige Tage lang die Straßen in der Dämmerung, die um diese Zeit sehr viel früher hereinbrach, menschenleer waren und nur der Wind ununterbrochen klagte. Vom aufgewühlten und immer unsichtbaren Meer stieg ein Geruch nach Algen und Salz auf. Diese verlassene, vom Staub gebleichte, von Meeresgerüchen getränkte, vom Heulen des Windes tönende Stadt stöhnte dann wie eine unselige Insel.
Bisher hatte die Pest in den dichter bevölkerten und weniger komfortablen Außenbezirken viel mehr Opfer gefordert als im Stadtzentrum. Aber auf einmal schien sie näher zu rücken und sich auch in den Geschäftsvierteln einzunisten. Die Bewohner bezichtigten den Wind, er trage die Ansteckungskeime mit sich. «Er bringt alles durcheinander», sagte der Hoteldirektor. Aber wie auch immer, die Innenstadtbezirke wussten, dass die Reihe an ihnen war, wenn sie nachts ganz in ihrer Nähe und immer häufiger das Bimmeln der Krankenwagen hörten, das unter ihren Fenstern den düsteren, leidenschaftslosen Ruf der Pest ertönen ließ.
Man kam auf die Idee, innerhalb der Stadt bestimmte besonders stark betroffene Viertel zu isolieren und nur den Menschen, deren Dienste unentbehrlich waren, zu erlauben, sie zu verlassen. Die bisher dort Wohnenden konnten nicht umhin, diese Maßnahme als eine gezielt gegen sie gerichtete Schikane zu sehen, und hielten auf alle Fälle im Gegensatz dazu die Bewohner der anderen Viertel für freie Menschen. Diese wiederum fanden in ihren schweren Stunden Trost in der Vorstellung, dass andere noch weniger frei waren als sie. «Es gibt immer einen, der noch mehr Gefangener ist als ich», war der Satz, der damals die einzige mögliche Hoffnung zusammenfasste.
Etwa um diese Zeit gab es auch eine Zunahme an Bränden, vor allem in den Vergnügungsvierteln an den Westtoren der Stadt. Erkundigungen ergaben, dass es sich um aus der Quarantäne zurückgekehrte Menschen handelte, die vor Trauer und Unglück den Verstand verloren hatten und mit der Illusion, so die Pest umzubringen, ihr Haus anzündeten. Es kostete große Mühe, diese Übergriffe zu bekämpfen, deren Häufigkeit wegen des heftigen Windes ganze Viertel ständig gefährdete. Nachdem man vergeblich dargelegt hatte, dass die von den Behörden vorgenommene Desinfizierung der Häuser genügte, um jede Ansteckungsgefahr zu beseitigen, mussten gegen diese unschuldigen Brandstifter sehr strenge Strafen festgesetzt werden. Und wahrscheinlich war es nicht der Gedanke an das Gefängnis, der jene Unglücklichen damals abschreckte, sondern die allen Einwohnern gemeinsame Gewissheit, dass eine Gefängnisstrafe infolge der extrem hohen Sterblichkeitsziffer im städtischen Kerker einem Todesurteil gleichkam. Natürlich war dieser Glaube nicht unbegründet. Aus einleuchtenden Gründen wütete die Pest besonders unter jenen, die die Gewohnheit hatten, in Gruppen zu leben, unter Soldaten, Mönchen oder Gefangenen. Trotz der Isolierung bestimmter Sträflinge ist ein Gefängnis eine Gemeinschaft, und die Tatsache, dass in unserem Stadtgefängnis die Wärter genauso wie die Gefangenen der Krankheit ihren Tribut entrichteten, beweist dies. Vom höheren Standpunkt der Pest aus waren vom Direktor bis zum letzten Sträfling alle verurteilt, und zum ersten Mal vielleicht herrschte im Gefängnis absolute Gerechtigkeit.
Umsonst versuchten die Behörden eine Rangordnung in diese Gleichmacherei einzuführen, indem sie die Idee aufbrachten, die in Ausübung ihrer Pflicht gestorbenen Gefängniswärter mit einem Orden auszuzeichnen. Da der Belagerungszustand verhängt war und man die Gefängniswärter unter einem bestimmten Gesichtspunkt als Mobilisierte betrachten konnte, verlieh man ihnen postum die Militärmedaille. Die Sträflinge ließen zwar keinen Protest vernehmen, aber die militärischen Kreise nahmen die Sache nicht gut auf und wiesen zu Recht darauf hin, dass in der öffentlichen Meinung eine bedauerliche Verwirrung entstehen könne. Man entsprach ihrem Gesuch und hielt es für das Einfachste, den Wärtern, die starben, die Epidemiemedaille zu verleihen. Aber bei den Ersten war das Unglück geschehen, es war undenkbar, ihnen den Orden wegzunehmen, und die militärischen Kreise hielten ihren Standpunkt aufrecht. Was andererseits die Epidemiemedaille betraf, so
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