Die Pest (German Edition)
hatte sie den Nachteil, nicht die moralische Wirkung zu erzeugen, die durch die Verleihung eines militärischen Ordens erreicht worden war, da es in Epidemiezeiten keine Kunst war, eine solche Auszeichnung zu bekommen. Alle waren unzufrieden.
Zudem konnte die Gefängnisverwaltung nicht so vorgehen wie die kirchlichen und, in geringerem Umfang, die militärischen Behörden. Die Mönche der beiden einzigen Klöster der Stadt waren nämlich verteilt und vorübergehend bei frommen Familien untergebracht worden. Genauso waren jedes Mal, wenn es möglich war, kleinere Abteilungen aus den Kasernen abkommandiert und in Schulen oder öffentlichen Gebäuden einquartiert worden. So brach die Krankheit, die die Einwohner scheinbar zu einer Solidarität von Belagerten gezwungen hatte, gleichzeitig die traditionellen Vereinigungen auseinander und überließ die Einzelnen ihrer Einsamkeit. Das schuf Verwirrung.
Man kann sich denken, dass all diese Umstände zusammen mit dem Wind auch manche Köpfe in Brand steckten. Die Stadttore wurden von neuem und wiederholt angegriffen, aber diesmal von kleinen bewaffneten Gruppen. Es kam zu Schusswechseln und einigen Ausbrüchen. Die Wachposten wurden verstärkt, und diese Versuche hörten ziemlich rasch auf. Sie genügten jedoch, um in der Stadt einen revolutionären Funken zu entfachen, der einige Gewaltszenen hervorrief. Brennende oder aus Gesundheitsgründen geschlossene Häuser wurden geplündert. Ehrlich gesagt ist es schwer zu glauben, dass diese Taten geplant waren. Meistens verleitete eine plötzliche Gelegenheit bis dahin unbescholtene Leute zu sträflichen Taten, die auf der Stelle nachgeahmt wurden. So gab es Wahnsinnige, die sich in ein noch brennendes Haus stürzten, während der vor Schmerz stumpfsinnige Besitzer dabeistand. Angesichts seiner Gleichgültigkeit folgten viele Zuschauer deren Beispiel, und in der dunklen Straße konnte man im Feuerschein von überall her Schatten davonlaufen sehen, die verzerrt waren von den erlöschenden Flammen und von den Gegenständen oder Möbeln, die sie auf den Schultern trugen. Diese Zwischenfälle zwangen die Behörden, den Pestzustand dem Belagerungszustand gleichzusetzen und die sich daraus ergebenden Gesetze anzuwenden. Zwei Diebe wurden erschossen, aber es ist zweifelhaft, ob das die anderen beeindruckte, denn inmitten so vieler Toter fielen diese zwei Hinrichtungen nicht weiter auf: Es war ein Wassertropfen im Meer. Und in Wahrheit wiederholten sich solche Vorkommnisse ziemlich häufig, ohne dass die Behörden daran dachten einzuschreiten. Die einzige Maßnahme, die die ganze Bevölkerung zu beeindrucken schien, war die Verhängung des Ausgehverbots. Von elf Uhr an wurde die in völlige Dunkelheit getauchte Stadt zu Stein.
Unter dem mondhellen Himmel erstreckte sie ihre weißlichen Mauern und ihre geradlinigen Straßen, auf die nie der schwarze Fleck eines Baumes fiel, die nie vom Schritt eines Spaziergängers oder vom Jaulen eines Hundes gestört wurden. Die große stille Stadt war damals nur noch eine Ansammlung massiver, lebloser Kuben, zwischen denen allein die schweigsamen Bildnisse auf immer in Bronze erstickter vergessener Wohltäter oder ehemaliger großer Männer mit ihren falschen Gesichtern aus Stein oder Eisen versuchten, ein verwittertes Bild dessen wachzurufen, was der Mensch gewesen war. Diese armseligen Leitbilder thronten unter einem bedeckten Himmel, auf unbelebten Kreuzungen, gefühllosen Unmenschen gleich, die recht gut das reglose Reich versinnbildlichten, in das wir eingetreten waren, oder zumindest dessen allerletzte Ordnung, die einer Totenstadt, in der die Pest, der Stein und die Nacht endlich jede Stimme zum Schweigen gebracht hatten.
Aber auch in allen Herzen war es Nacht, und die wahren wie die erfundenen Geschichten, die über die Beerdigungen weitererzählt wurden, waren nicht geeignet, unsere Mitbürger zu beruhigen. Von den Beerdigungen muss nämlich einfach gesprochen werden, und der Erzähler entschuldigt sich dafür. Er ahnt den Vorwurf wohl, den man ihm deswegen machen könnte, aber seine einzige Rechtfertigung ist, dass es während dieser ganzen Zeit Beerdigungen gab und man ihn, wie alle seine Mitbürger, gewissermaßen gezwungen hat, sich damit zu befassen. Es ist jedenfalls nicht so, dass er eine Vorliebe für derartige Zeremonien hatte, sondern er zieht im Gegenteil die Gesellschaft der Lebenden und, um ein Beispiel zu nennen, das Baden im Meer vor. Aber das Baden im Meer war ja abgeschafft
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