Die Pest (German Edition)
Opfer bei weitem die Möglichkeiten, die unser kleiner Friedhof zu bieten hatte. Mochte man auch Stücke der Mauer einreißen und den Toten eine Ausweitung auf die umliegenden Gelände öffnen, so musste man doch sehr schnell etwas anderes finden. Zuerst beschloss man, bei Nacht zu beerdigen, womit bestimmte Rücksichten entbehrlich wurden. Man konnte mehr und mehr Leichen in die Krankenwagen packen. Und den wenigen verspäteten Spaziergängern, die sich gegen jede Vorschrift noch nach der Sperrstunde in den Außenbezirken befanden (oder jenen, die ihr Beruf dorthin führte), begegneten manchmal lange weiße Krankenwagen, die mit vollem Tempo vorbeirasten und deren klangloses Bimmeln durch die leeren nächtlichen Straßen hallte. Hastig wurden die Leichen in die Gruben geworfen. Sie hatten noch nicht aufgehört, mit ihren Gliedern zu schlenkern, wenn ihnen schon der Kalk aufs Gesicht geschaufelt wurde und die Erde sie in immer tiefer gegrabenen Löchern namenlos bedeckte.
Etwas später jedoch war man gezwungen, nach etwas anderem zu suchen und noch mehr Platz zu gewinnen. Eine Verfügung des Präfekten enteignete die Nutzungsberechtigten von Familiengräbern, und man schaffte alle exhumierten Überreste in das Krematorium. Bald mussten auch die Pesttoten selbst eingeäschert werden. Aber dazu musste man den alten Verbrennungsofen benutzen, der sich im Osten der Stadt, außerhalb der Tore, befand. Die Wachposten wurden weiter vorgeschoben, und ein Rathausangestellter erleichterte die Aufgabe der Behörden sehr mit seinem Rat, die Straßenbahnen zu benutzen, die früher über die Steilküstenstraße verkehrten und nun außer Dienst waren. Das Innere der Anhänge- und Motorwagen wurde für diesen Zweck hergerichtet, indem man die Sitze entfernte und die Gleise bei der Verbrennungsanlage umleitete, die so eine Endstation wurde.
Und während des ganzen Spätsommers und mitten in den Herbstregenfällen konnte man in tiefer Nacht über dem Meer auf der Küstenstraße seltsame Straßenbahnzüge ohne Fahrgäste entlangschwanken sehen. Die Einwohner hatten schließlich erfahren, was es damit auf sich hatte. Und trotz der Patrouillen, die den Zugang zur Küstenstraße verwehrten, gelang es Gruppen ziemlich oft, sich in die Felsen über den Wellen zu schleichen und beim Vorbeifahren der Straßenbahnen Blumen in die Anhängewagen zu werfen. Dann hörte man die Fahrzeuge noch mit ihrer Ladung Blumen und Toter durch die Sommernacht rumpeln.
Gegen Morgen schwebte, jedenfalls in den ersten Tagen, dichter, ekelerregender Rauch über den östlichen Vierteln der Stadt. Nach Ansicht aller Mediziner waren diese Ausdünstungen zwar unangenehm, aber für niemanden schädlich. Aber die Bewohner dieser Viertel drohten sofort damit, sie zu verlassen, da sie überzeugt waren, die Pest falle auf diese Weise vom Himmel auf sie nieder, sodass man gezwungen war, den Rauch durch ein kompliziertes Ableitungssystem umzulenken, und die Bewohner beruhigten sich. Nur an Tagen mit starkem Wind erinnerte sie ein von Osten kommender vager Geruch daran, dass sie in einer neuen Ordnung lebten und dass die Flammen der Pest jeden Abend ihren Tribut verzehrten.
Das waren die schlimmsten Folgen der Epidemie. Aber zum Glück dehnte sie sich nicht noch weiter aus, denn dann wären womöglich die Erfindungsgabe unserer Ämter, die Verfügungen der Präfektur und sogar das Fassungsvermögen des Einäscherungsofens überfordert gewesen. Rieux wusste, dass für diesen Fall verzweifelte Lösungen vorgesehen waren, wie das Versenken der Leichen im Meer, und er konnte sich ihren grässlichen Schaum auf dem blauen Wasser leicht vorstellen. Er wusste auch, dass bei einem weiteren Ansteigen der Statistik keine noch so vortreffliche Organisation dem standhalten konnte, dass die Menschen dann der Präfektur zum Trotz eng zusammengedrängt sterben und auf der Straße verwesen würden und dass die Stadt es erleben würde, wie sich auf den öffentlichen Plätzen die Sterbenden in einer Mischung aus berechtigtem Hass und unvernünftiger Hoffnung an die Lebenden klammerten.
Es waren jedenfalls derartige Gewissheiten oder Befürchtungen, die bei unseren Mitbürgern das Gefühl ihres Exils und ihres Getrenntseins wachhielten. Der Erzähler weiß genau, wie bedauerlich es ist, dass er hier nichts wirklich Aufsehenerregendes berichten kann, etwa von irgendeinem tröstlichen Helden oder irgendeiner großartigen Tat, wie sie in den alten Geschichten vorkommen. Nichts ist nämlich
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