Die Pest (German Edition)
dem kollektiven Unglück herausgehalten hatten, nahmen sie jetzt die Vermischung hin. Ohne Erinnerung und ohne Hoffnung, richteten sie sich in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde für sie alles Gegenwart. Es muss einfach gesagt werden, die Pest hatte allen die Fähigkeit zur Liebe und sogar zur Freundschaft genommen. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nur mehr Augenblicke.
Natürlich galt nichts von all dem absolut. Es stimmt zwar, dass alle Getrennten in diesen Zustand gerieten, aber es muss hinzugefügt werden, dass sie ihn nicht alle gleichzeitig erreichten und auch, dass sie aus dieser einmal geduldig angenommenen neuen Haltung durch blitzartige Eingebungen, Rückblicke und jähe Erleuchtungen in eine frühere, schmerzhaftere Empfindsamkeit zurückfielen. Dazu bedurfte es jener Momente der Zerstreutheit, in denen sie irgendeinen Plan schmiedeten, der das Ende der Pest zur Voraussetzung hatte. Dazu mussten sie unverhofft, durch irgendeinen Reiz ausgelöst, die Stiche einer gegenstandslosen Eifersucht verspüren. Andere erlebten auch ein plötzliches Wiederaufleben und tauchten an manchen Wochentagen aus ihrer Apathie auf, am Sonntag natürlich und am Samstagnachmittag, weil diese Tage in der gemeinsamen Zeit mit dem Abwesenden bestimmten Bräuchen vorbehalten waren. Oder eine gewisse Schwermut, die sie am Ende des Tages überfiel, brachte ihnen die, allerdings nicht immer bestätigte, Vorahnung, dass die Erinnerung zurückkommen würde. Diese Abendstunde, die für Gläubige die der Gewissenserforschung ist, diese Stunde ist hart für den Gefangenen oder Exilierten, der nichts als Leere zu erforschen hat. Sie hielt sie einen Augenblick in der Schwebe, dann fielen sie zurück in die Erschlaffung und schlossen sich in die Pest ein.
Es wird schon klar geworden sein, dass dies in einem Verzicht auf ihr persönlichstes Leben bestand. Während sie in der ersten Zeit der Pest überrascht waren von der Vielzahl von Kleinigkeiten, die ihnen wichtig waren, ohne für die anderen vorhanden zu sein, und so die Erfahrung des persönlichen Lebens machten, interessierte sie jetzt im Gegenteil nur noch das, was die anderen interessierte, hatten sie nur noch allgemeine Gedanken, und selbst ihre Liebe hatte für sie die abstrakteste Gestalt angenommen. Sie waren so sehr der Pest anheimgefallen, dass sie manchmal nur noch auf deren Schlaf hofften und sich bei dem Gedanken ertappten: «Die Beulen, und Schluss damit!» Aber in Wahrheit schliefen sie schon, und diese ganze Zeit war nur ein langer Schlaf. Die Stadt war mit wachen Schlafenden bevölkert, die ihrem Schicksal nur die seltenen Male wirklich entgingen, wenn nachts ihre scheinbar geschlossene Wunde jäh wieder aufbrach. Und aus dem Schlaf geschreckt, tasteten sie dann mit einer Art Zerstreutheit deren gereizte Ränder ab und fanden blitzartig ihr plötzlich erneutes Leid und mit ihm das verstörte Gesicht ihrer Liebe wieder. Am Morgen kehrten sie wieder zur Seuche, das heißt zur Routine zurück.
Aber wie, wird man sagen, sahen diese Getrennten aus? Nun, das ist einfach, sie sahen nach nichts aus. Oder, wenn man lieber will, sie sahen aus wie alle, hatten ein ganz allgemeines Aussehen. Sie teilten die Ruhe und die kindischen Aufregungen der Stadt. Sie verloren den Anschein von kritischem Geist und gewannen dafür den Anschein von Gelassenheit. Man konnte zum Beispiel sehen, wie die Intelligentesten unter ihnen so taten, als suchten sie wie alle Welt in der Zeitung oder im Rundfunk Gründe, an ein schnelles Ende der Pest glauben zu können, und wie sie beim Lesen von Überlegungen, die ein Journalist ein wenig ins Blaue hinein und vor Langeweile gähnend geschrieben hatte, offenkundig trügerische Hoffnungen schöpften oder unbegründete Ängste empfanden. Ansonsten tranken sie ihr Bier oder pflegten ihre Kranken, faulenzten oder verausgabten sich, ordneten Karteikarten ein oder spielten Schallplatten, ohne sich weiter voneinander zu unterscheiden. Anders gesagt, sie wählten nichts mehr. Die Pest hatte Werturteile abgeschafft. Und das sah man daran, dass niemand sich mehr um die Qualität der Kleider oder der Nahrungsmittel scherte, die gekauft wurden. Alles wurde in Bausch und Bogen akzeptiert.
Abschließend kann man sagen, dass die Getrennten nicht mehr dieses seltsame Privileg hatten, das sie am Anfang schützte. Ihnen waren der Egoismus der Liebe und der Nutzen, den sie daraus zogen, abhanden gekommen. Zumindest war die Situation jetzt klar:
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