Die Pest (German Edition)
weniger aufsehenerregend als eine Seuche, und schon durch ihre Dauer sind große Unglücke eintönig. In der Erinnerung jener, die sie miterlebt haben, erscheinen die schrecklichen Tage der Pest nicht als grandiose und grausame hohe Flamme, sondern eher als ein endloser Leerlauf, der alles zermalmte.
Nein, die Pest hatte nichts mit den erregenden großen Bildern zu tun, die Doktor Rieux zu Beginn der Epidemie verfolgt hatten. Sie war in erster Linie eine umsichtige, fehlerlose und gut funktionierende Verwaltung. In Klammern sei gesagt, dass der Erzähler daher auch, um nichts zu verfälschen und vor allem um sich selbst nicht zu verraten, nach Objektivität gestrebt hat. Er hat fast nichts durch Kunstgriffe verändern wollen, außer den elementaren Erfordernissen einer einigermaßen zusammenhängenden Erzählung. Und eben die Objektivität schreibt ihm vor, jetzt zu sagen, dass zu jener Zeit das Getrenntsein das größte Leid war, das allgemeinste und tiefste, dass es aus Gründlichkeit unerlässlich ist, es in diesem Stadium der Pest neu zu beschreiben, dass damals allerdings eben dieses Leid etwas von seinem Pathos verlor.
Gewöhnten sich unsere Mitbürger, zumindest jene, die am meisten unter diesem Getrenntsein litten, an die Situation? Das zu behaupten wäre nicht ganz richtig. Zutreffender wäre, dass sie moralisch wie körperlich an Auszehrung litten. Zu Beginn der Pest erinnerten sie sich sehr genau an den Menschen, den sie verloren hatten, und sie vermissten ihn. Sie erinnerten sich zwar genau an das geliebte Gesicht, an sein Lachen, an einen bestimmten Tag, den sie nachträglich als einen glücklichen erkannten, aber sie konnten sich nur schwer vorstellen, was der andere wohl im gleichen Augenblick, in dem sie an ihn dachten, und an einem nunmehr so fernen Ort machte. Kurz, zu jenem Zeitpunkt hatten sie eine Erinnerung, aber eine unzureichende Vorstellungsgabe. Im zweiten Stadium der Pest verloren sie auch die Erinnerung. Nicht, dass sie jenes Gesicht vergessen hätten, aber, was auf dasselbe hinausläuft, sie hatten seine Körperlichkeit vergessen, sie erblickten es nicht mehr in ihrem Innern. Und während sie in den ersten Wochen dazu neigten, sich zu beklagen, dass sie es bei ihrer Liebe nur noch mit Schatten zu tun hatten, merkten sie in der Folge, dass diese Schatten noch körperloser werden konnten und das letzte bisschen Farbe einbüßten, das die Erinnerung von ihnen bewahrte. Ganz am Ende dieser langen Trennungszeit konnten sie sich weder jene innige Vertrautheit, die sie gehabt hatten, vorstellen noch wie neben ihnen ein Mensch hatte leben können, den sie jederzeit in greifbarer Nähe hatten.
In dieser Hinsicht waren sie in die Ordnung der Pest schlechthin eingetreten, die gerade durch ihre größere Mittelmäßigkeit umso stärker wirkte. Niemand bei uns hatte mehr große Gefühle. Aber jeder empfand monotone Gefühle. «Es wird Zeit, dass es aufhört», sagten unsere Mitbürger, weil es in Zeiten von Plagen normal ist, das Ende der gemeinsamen Leiden zu wünschen, und weil sie tatsächlich wünschten, dass es aufhörte. Aber all das wurde ohne das Feuer oder die Erbitterung des Anfangs gesagt und nur aus den wenigen Gründen, die uns noch klar blieben und die dürftig waren. Dem wilden Ungestüm der ersten Wochen war eine Niedergeschlagenheit gefolgt, die man zu Unrecht für Resignation gehalten hätte, die aber nichtsdestoweniger eine Art vorübergehendes Nachgeben war.
Unsere Mitbürger waren mit der Zeit gegangen, sie hatten sich angepasst, wie man so sagt, weil es anders nicht ging. Natürlich bewahrten sie noch die Haltung des Unglücks und Leids, aber sie fühlten deren Stachel nicht mehr. Im Übrigen meinte Doktor Rieux zum Beispiel, eben das sei das Unglück und die Gewöhnung an die Verzweiflung sei schlimmer als die Verzweiflung selbst. Vorher waren die Getrennten nicht wirklich unglücklich, in ihrem Leid war ein Leuchten, das nun erloschen war. Jetzt sah man sie an den Straßenecken, in den Cafés oder bei ihren Freunden, still und zerstreut und mit so gelangweiltem Blick, dass durch sie die ganze Stadt einem Wartesaal glich. Jene, die einen Beruf hatten, übten ihn im Stil der Pest aus: gewissenhaft und unauffällig. Alle waren bescheiden. Zum ersten Mal widerstrebte es den Getrennten nicht, von dem Abwesenden zu sprechen, die Sprache aller zu übernehmen, ihr Getrenntsein unter demselben Blickwinkel wie die Peststatistik zu betrachten. Während sie ihr Leid bisher unnahbar aus
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