Die Pest (German Edition)
Die Seuche betraf alle. Inmitten der Schüsse, die an den Stadttoren knallten, der Stempel, die den Takt zu unserem Leben oder Sterben schlugen, inmitten der Brände und Karteikarten, des Schreckens und der Formalitäten, einem schmählichen, aber amtlich verzeichneten Tod geweiht, zwischen dem grauenhaften Rauch und dem friedlichen Bimmeln der Krankenwagen nährten wir uns vom gleichen Brot des Exils und warteten, ohne es zu ahnen, auf die gleiche alles verändernde Wiedervereinigung und den gleichen Frieden. Unsere Liebe war zweifellos noch immer da, bloß unbrauchbar, schwer zu tragen, passiv in uns, unfruchtbar wie das Verbrechen oder die Strafe. Sie war nur mehr eine Geduld ohne Zukunft und ein eigensinniges Warten. Und in dieser Hinsicht erinnerte die Haltung mancher unserer Mitbürger an jene langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften an allen Ecken der Stadt. Es war dieselbe zugleich grenzenlose und illusionslose Resignation und dieselbe Langmut. Auf das Getrenntsein bezogen müsste man dieses Gefühl nur tausendfach vergrößern, denn es handelte sich dabei um einen anderen Hunger, der alles verschlingen konnte.
Angenommen, man wollte eine richtige Vorstellung von der Gemütsverfassung haben, in der sich die Getrennten unserer Stadt befanden, müsste man jedenfalls wieder jene endlosen goldenen und staubigen Abende erwähnen, die sich über die baumlose Stadt senkten, während Männer und Frauen in alle Straßen strömten. Was dann zu den noch sonnigen Terrassen hinaufstieg, war nämlich, ohne den Lärm von Fahrzeugen und Maschinen, die sonst die ganze Sprache der Städte ausmachen, seltsamerweise nur ein ungeheures Getöse von Schritten und dumpfen Stimmen, das schmerzliche Gleiten von Tausenden von Sohlen, rhythmisch begleitet vom Pfeifen des Dreschflegels am tiefhängenden Himmel, ein endloses und erstickendes Auf-der-Stelle-Treten schließlich, das nach und nach die ganze Stadt erfüllte und Abend für Abend der blinden Beharrlichkeit, die in unseren Herzen damals die Liebe ersetzte, ihre getreulichste und trübsinnigste Stimme verlieh.
IV
Während der Monate September und Oktober hielt die Pest die Stadt unter ihrer Knute. Da es sich um ein Auf-der-Stelle-Treten handelte, traten einige hunderttausend Menschen nicht enden wollende Wochen lang weiter auf der Stelle. Am Himmel wechselten sich Nebel, Hitze und Regen ab. Lautlose Züge Stare und Drosseln flogen von Süden kommend sehr hoch dahin, mieden aber die Stadt, als hielte Paneloux’ Dreschflegel sie fern, das seltsame Stück Holz, das pfeifend über den Häusern kreiste. Anfang Oktober fegten schwere Wolkenbrüche durch die Straßen. Und während dieser ganzen Zeit ereignete sich nichts Wichtigeres als dieses ungeheure Auf-der-Stelle-Treten.
Damals merkten Rieux und seine Freunde, wie müde sie waren. Tatsächlich gelang es den Männern der Sanitätstrupps nicht mehr, diese Müdigkeit auszugleichen. Doktor Rieux stellte es fest, als er an seinen Freunden und an sich selbst das Zunehmen einer merkwürdigen Gleichgültigkeit beobachtete. Diese Männer, die bis dahin ein so lebhaftes Interesse für alle Nachrichten über die Pest gezeigt hatten, machten sich jetzt zum Beispiel gar keine Gedanken mehr darüber. Rambert, dem man die vorübergehende Leitung einer seit kurzem in seinem Hotel eingerichteten Quarantänestation übertragen hatte, kannte genauestens die Zahl der unter seiner Beobachtung stehenden Menschen. Er war auf dem Laufenden über die kleinsten Einzelheiten des Systems, das er für die sofortige Evakuierung derer organisiert hatte, die plötzlich Krankheitssymptome zeigten. Die Statistik der Wirkung des Impfstoffes auf die in Quarantäne Befindlichen war in sein Gedächtnis eingegraben. Aber er war nicht imstande, die wöchentliche Zahl der Pestopfer anzugeben, er wusste wirklich nicht, ob die Epidemie sich ausbreitete oder zurückging. Und er bewahrte trotz allem die Hoffnung auf eine baldige Flucht.
Was die anderen anging, die Tag und Nacht von ihrer Arbeit beansprucht waren, so lasen sie weder Zeitung noch hörten sie Radio. Und wenn ihnen ein Ergebnis mitgeteilt wurde, taten sie so, als interessierten sie sich dafür, nahmen es aber tatsächlich mit jener zerstreuten Gleichgültigkeit auf, wie man sie sich bei den Frontkämpfern der großen Kriege vorstellt, die, völlig abgekämpft, nur noch darauf bedacht sind, in ihren täglichen Pflichten nicht zu versagen und keine Hoffnung mehr auf die entscheidende Kampfhandlung
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