Die Pest (German Edition)
geleert, die eisengrauen Leichen auf Bahren gelegt, und dann warteten sie in einem zu diesem Zweck hergerichteten Schuppen. Die Särge wurden mit einer antiseptischen Lösung abgespritzt, ins Krankenhaus zurückgebracht, und die Aktion begann so oft wie nötig von vorn. Die Organisation war also sehr gut, und der Präfekt zeigte sich zufrieden. Er sagte sogar zu Rieux, dass dies letzten Endes besser sei als die von Negern geschobenen Totenkarren, wie sie in alten Pestchroniken erwähnt werden.
«Ja», sagte Rieux, «die Beerdigung ist gleich, wir aber legen Karteikarten an. Der Fortschritt ist unbestreitbar.»
Trotz dieser Erfolge der Verwaltung zwang das Unangenehme, das die Formalitäten jetzt an sich hatten, die Präfektur, die Angehörigen von der Zeremonie fernzuhalten. Man duldete nur, dass sie ans Friedhofstor kamen, und selbst das war nicht offiziell. Denn was die letzte Zeremonie betraf, so hatten sich die Dinge etwas geändert. Man hatte im hintersten Teil des Friedhofs, auf einem mit Mastixbäumen bewachsenen unbenutzten Platz, zwei riesige Gruben ausgehoben. Eine war für die Männer und eine für die Frauen. In dieser Hinsicht respektierte die Verwaltung den Anstand, und erst viel später verschwand diese letzte Scham durch die Gewalt der Ereignisse, und Männer und Frauen wurden ohne Rücksicht auf Schicklichkeit wahllos übereinander beerdigt. Glücklicherweise kennzeichnete dieses äußerste Durcheinander nur die letzten Momente der Seuche. In der Zeit, die uns jetzt beschäftigt, waren die Gruben noch getrennt, und die Präfektur legte großen Wert darauf. Auf ihrem Grund rauchte und brodelte eine dicke Schicht ungelöschten Kalks. An den Rändern des Lochs ließ ein kleiner Berg des gleichen Kalks seine Blasen an der Luft platzen. Wenn die Fahrten der Krankenwagen beendet waren, trug man die Bahren nacheinander dorthin, ließ die bloßen, leicht verkrümmten Leichen annähernd nebeneinander auf den Grund gleiten und bedeckte sie augenblicklich mit ungelöschtem Kalk und dann mit Erde, aber nur bis zu einer bestimmten Höhe, um Platz für kommende Gäste zu lassen. Am nächsten Tag wurden die Angehörigen veranlasst, in einem Register zu unterschreiben, was den Unterschied zwischen den Menschen und, beispielsweise, den Hunden ausmachte: Eine Kontrolle war immer möglich.
Für all diese Arbeitsgänge war Personal erforderlich, und man war immer kurz davor, keines zu haben. Viele dieser zuerst amtlichen, dann provisorischen Totengräber starben an der Pest. Welche Vorkehrungen man auch traf, irgendwann wurden sie doch angesteckt. Aber wenn man es genau bedenkt, war das Erstaunlichste, dass es während der gesamten Epidemie nie an Männern fehlte, die diese Arbeit taten. Kritisch wurde es kurz bevor die Pest ihren Höhepunkt erreichte, und Doktor Rieux’ Sorge war damals begründet. Weder für die höheren Posten noch für die grobe Arbeit, wie er es nannte, gab es genügend Arbeitskräfte. Aber von dem Zeitpunkt an, als die Pest wirklich die ganze Stadt erobert hatte, brachte gerade ihr Übermaß ganz praktische Folgen mit sich, denn sie brachte das gesamte Wirtschaftsleben zum Erliegen und verursachte so eine erhebliche Zahl von Arbeitslosen. In den meisten Fällen waren sie nicht für die höheren Posten geeignet, aber die Erledigung der niederen Arbeiten wurde dadurch erleichtert. Von diesem Augenblick an nämlich erlebte man immer, dass das Elend stärker war als die Angst, zumal die Arbeit den Risiken entsprechend bezahlt wurde. Die Sanitätstrupps konnten über eine Liste mit Bewerbern verfügen, und sobald sich eine Vakanz ergab, benachrichtigte man die Ersten auf der Liste, die sich, außer wenn sie in der Zwischenzeit selbst eine freie Stelle hinterlassen hatten, unverzüglich einstellten. So konnte der Präfekt, der lange gezögert hatte, auf Zeit oder lebenslänglich zu Gefängnis Verurteilte für diese Arbeit einzusetzen, es vermeiden, zu diesem äußersten Mittel zu greifen. Solange es Arbeitslose gab, könne man warten, meinte er.
Bis Ende August konnten unsere Mitbürger also mehr schlecht als recht zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht werden, wenn auch nicht anständig, so doch geordnet genug, damit die Verwaltung den Eindruck behielt, sie erfülle ihre Pflicht. Aber man muss dem Lauf der Ereignisse etwas vorgreifen, um von den letzten Methoden zu berichten, zu denen man greifen musste. Bei dem Niveau, auf dem sich die Pest nämlich von August an hielt, überstieg die Häufung der
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