Die Pest (German Edition)
noch auf den Tag des Waffenstillstands hegen.
Grand, der weiter die durch die Pest bedingten Berechnungen durchführte, wäre bestimmt unfähig gewesen, deren allgemeine Ergebnisse zu nennen. Im Gegensatz zu Tarrou, Rambert und Rieux, die offensichtlich gegen Ermüdung abgehärtet waren, war er nie sehr gesund gewesen. Nun widmete er sich gleichzeitig seinen Aufgaben als Hilfsangestellter im Rathaus, seinem Sekretariatsposten bei Rieux und seinen nächtlichen Arbeiten. So konnte man ihn in einem ständigen Erschöpfungszustand sehen, in dem ihn zwei oder drei fixe Ideen aufrechterhielten, wie die, sich nach der Pest mindestens eine Woche richtige Ferien zu gönnen und dann konkret, «Hut ab», an dem zu arbeiten, was er angefangen hatte. Er hatte auch Anfälle von Rührseligkeit und sprach bei solchen Gelegenheiten gern mit Rieux über Jeanne, fragte sich, wo sie im Augenblick wohl sein mochte und ob sie beim Zeitunglesen an ihn dachte. Bei ihm ertappte sich Rieux eines Tages dabei, dass er im alltäglichsten Ton von seiner eigenen Frau sprach, was er bis dahin nie getan hatte. Unsicher, ob er den immer beruhigenden Telegrammen seiner Frau Glauben schenken solle, hatte er sich entschlossen, dem Chefarzt der Anstalt zu kabeln, in der sie behandelt wurde. Als Antwort hatte er die Nachricht erhalten, dass sich der Zustand der Kranken verschlechtert habe, und die Versicherung, dass alles getan werde, um das Fortschreiten der Krankheit einzudämmen. Er hatte die Nachricht für sich behalten und konnte sich nicht anders als mit der Müdigkeit erklären, wie er sie Grand hatte anvertrauen können. Der Angestellte hatte ihn, nachdem er von Jeanne gesprochen hatte, über seine Frau ausgefragt, und Rieux hatte geantwortet. «Wissen Sie», hatte Grand gesagt, «das lässt sich heute sehr gut heilen.» Und Rieux hatte ihm beigestimmt und einfach gesagt, dass die Trennung allmählich lang werde und er seiner Frau vielleicht hätte helfen können, ihre Krankheit zu besiegen, wohingegen sie sich heute ganz allein fühlen müsse. Dann hatte er geschwiegen und hatte Grands Fragen nur noch ausweichend beantwortet.
Die anderen waren in der gleichen Verfassung. Tarrou verkraftete es besser, aber seine Aufzeichnungen zeigen, dass seine Neugier zwar nicht weniger intensiv, aber weniger vielseitig geworden war. Während dieser ganzen Zeit nämlich interessierte er sich offenbar nur für Cottard. Abends, bei Rieux zu Hause, wo er untergekommen war, seit das Hotel in eine Quarantänestation umgewandelt worden war, hörte er kaum zu, wenn Grand oder der Arzt von den Ergebnissen berichteten. Er brachte das Gespräch sofort auf die kleinen Einzelheiten des Oraner Lebens, die ihn im Allgemeinen beschäftigten.
An dem Tag, als Castel kam und dem Arzt meldete, dass der Impfstoff fertig sei, und nachdem sie beschlossen hatten, ihn an dem kleinen Jungen von Monsieur Othon auszuprobieren, der gerade eingeliefert worden war und dessen Fall hoffnungslos erschien, teilte Rieux seinem alten Freund den letzten Stand der Statistik mit; da bemerkte er, dass sein Gesprächspartner in seinem Sessel zusammengesunken fest eingeschlafen war. Und beim Anblick dieses Gesichts, dem sonst ein Ausdruck von Sanftheit und Ironie ewige Jugend verlieh, und das, plötzlich unkontrolliert, mit einem Speichelfaden zwischen den halboffenen Lippen, seine Abnutzung und sein Alter sehen ließ, fühlte Rieux, wie es ihm die Kehle zuschnürte.
Anhand solcher Schwächen konnte Rieux seine eigene Ermüdung einschätzen. Er hatte seine Empfindsamkeit nicht mehr unter Kontrolle. Meistens verknotet, verhärtet und ausgetrocknet, brach sie hin und wieder auf und lieferte ihn Gefühlen aus, die er nicht mehr beherrschte. Seine einzige Abwehr war die Flucht in diese Verhärtung und ein Anziehen des Knotens, der sich in ihm gebildet hatte. Er wusste genau, dass es die richtige Art war weiterzumachen. Ansonsten hatte er nicht viele Illusionen, und seine Müdigkeit raubte ihm die, die er sich noch bewahrte. Er wusste nämlich, dass seine Rolle für eine Zeit, deren Ende er nicht absah, nicht mehr darin bestand zu heilen. Seine Rolle bestand darin zu diagnostizieren. Entdecken, sehen, beschreiben, in die Kartei eintragen, dann verurteilen, das war seine Aufgabe. Ehefrauen ergriffen sein Handgelenk und heulten: «Herr Doktor, retten Sie sein Leben!» Aber er war nicht da, um Leben zu retten, er war da, um die Isolation anzuordnen. Wozu war der Hass gut, den er dann auf den Gesichtern
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