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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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in seinem Tagebuch, wie sie Schulter an Schulter in die dunkle Menschenmenge der Abenddämmerung oder Nächte eintauchten, in einer weißen und schwarzen Masse versanken, in die hier und da eine seltene Lampe Licht warf, und die menschliche Herde zu den heißen Vergnügungen begleitete, die sie vor der Kälte der Pest schützten. Das, was Cottard einige Monate zuvor in den öffentlichen Lokalen suchte, den Luxus und das große Leben, das, wovon er träumte, ohne es befriedigen zu können, nämlich zügelloses Genießen, dazu ließ sich jetzt ein ganzes Volk hinreißen. Während die Preise für alles unaufhaltsam stiegen, hatte man nie so viel Geld zum Fenster hinausgeworfen, und als den meisten das Lebensnotwendigste fehlte, hatte man das Überflüssige lieber verschwendet. Man erlebte eine Zunahme aller Lustbarkeiten eines Müßiggangs, der sich doch aus nichts anderem als der Arbeitslosigkeit ergab. Tarrou und Cottard folgten manchmal viele Minuten lang einem jener Paare, die zuvor darauf bedacht gewesen waren zu verbergen, was sie verband, und die jetzt aneinandergeschmiegt mit der etwas starren Zerstreutheit der großen Leidenschaft kreuz und quer durch die Stadt gingen, ohne die Menge um sie herum zu sehen. Cottard wurde rührselig: «Ach, die lockeren Vögel!», sagte er. Und er redete laut, blühte auf inmitten des allgemeinen Fiebers, der königlichen Trinkgelder, die rings um sie klingelten, und der Ränke, die vor ihren Augen geschmiedet wurden.
    Tarrou war jedoch der Ansicht, dass in Cottards Haltung nicht viel Bosheit steckte. Sein «Ich habe es vor euch erlebt» drückte mehr Unglück als Triumph aus. «Ich glaube», sagte Tarrou, «er fängt an, diese zwischen dem Himmel und den Mauern ihrer Stadt gefangenen Menschen zu mögen. Zum Beispiel würde er, wenn er könnte, ihnen gern erklären, dass es gar nicht so schrecklich ist. ‹Sie hören sie ja reden›, hat er mir gegenüber behauptet, ‹nach der Pest werde ich dies tun, nach der Pest werde ich das tun … Sie vergiften ihr Leben, statt sich ruhig zu verhalten. Und sie sind sich ihrer Vorteile nicht einmal bewusst. Konnte ich etwa sagen: Nach meiner Verhaftung werde ich dies tun? Die Verhaftung ist ein Anfang, kein Ende. Die Pest dagegen … Wollen Sie meine Meinung hören? Sie sind unglücklich, weil sie sich nicht gehenlassen. Und ich weiß, was ich sage.›
    Er weiß tatsächlich, was er sagt», fügte Tarrou hinzu. «Er schätzt die Widersprüchlichkeit der Oraner richtig ein, die ein tiefes Bedürfnis nach Wärme empfinden, das sie zusammenbringt, dem sie sich aber gleichzeitig wegen des Misstrauens, das sie voneinander entfernt, nicht hingeben können. Man weiß nur allzu gut, dass man seinem Nachbarn nicht trauen kann, dass er imstande ist, einem unbemerkt die Pest anzuhängen und die Hingabe auszunutzen, um einen anzustecken. Wenn man, wie Cottard, die ganze Zeit in allen, deren Gesellschaft man doch suchte, mögliche Spitzel gesehen hat, kann man dieses Gefühl verstehen. Man kann sehr gut mit Leuten mitfühlen, die in der Vorstellung leben, die Pest könne ihnen von heute auf morgen die Hand auf die Schulter legen und setze vielleicht gerade in dem Moment, wo man sich freut, noch gesund und munter zu sein, dazu an. Soweit das möglich ist, fühlt er sich im Schrecken wohl. Aber weil er das alles vor ihnen empfunden hat, glaube ich, dass er das Grausame dieser Ungewissheit nicht ganz nachempfindet. Kurz, er spürt genau, wie wir alle, die wir noch nicht an der Pest gestorben sind, dass seine Freiheit und sein Leben jeden Tag kurz davor sind, vernichtet zu werden. Da er aber selbst im Schrecken gelebt hat, findet er es normal, dass die anderen ihn gleichfalls kennenlernen. Genauer gesagt erscheint ihm der Schrecken dann weniger schwer zu ertragen, als wenn er ganz allein wäre. Darin hat er unrecht und ist schwieriger zu verstehen als andere. Aber schließlich verdient er es deshalb mehr als andere, dass man versucht, ihn zu verstehen.»
    Tarrous Tagebuchseiten schließen dann mit einem Bericht, der das eigenartige Bewusstsein veranschaulicht, das gleichzeitig Cottard und die Pestkranken erfasste. Dieser Bericht gibt die heikle Atmosphäre jener Zeit wieder, und deshalb hält der Erzähler ihn für wichtig.
    Sie waren in die Städtische Oper gegangen, in der Orpheus gegeben wurde. Cottard hatte Tarrou eingeladen. Es handelte sich um eine Truppe, die im Frühjahr der Pest gekommen war, um in unserer Stadt aufzutreten. Durch die Krankheit

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