Die Pest (German Edition)
kleinen Rentner lässt sich in dem folgenden Urteil zusammenfassen: «Das ist eine Persönlichkeit, die wächst.» Anscheinend wuchs er übrigens bei guter Laune. Er war nicht unzufrieden mit der Wendung, die die Ereignisse nahmen. Manchmal äußerte er Tarrou gegenüber den Kern seines Denkens mit Bemerkungen wie: «Sicher, es geht nicht besser. Aber wenigstens sitzen alle im selben Boot.»
«Natürlich ist er genauso bedroht wie die anderen», fügte Tarrou hinzu, «aber eben mit den anderen zusammen. Und außerdem, da bin ich sicher, glaubt er nicht ernsthaft, er könne die Pest bekommen. Er scheint nach der übrigens gar nicht so dummen Vorstellung zu leben, dass ein Mensch, der einer schweren Krankheit oder tiefen Angst anheimgefallen ist, damit von allen anderen Krankheiten und Ängsten befreit ist. ‹Ist Ihnen aufgefallen, dass man Krankheiten nicht anhäufen kann?›, hat er mir gesagt. ‹Angenommen, Sie hätten eine schwere und unheilbare Krankheit, einen richtigen Krebs oder eine ordentliche Tuberkulose, dann werden Sie nie die Pest oder Typhus bekommen, das ist ausgeschlossen. Das geht übrigens noch weiter, denn Sie haben noch nie einen Krebskranken an einem Autounfall sterben sehen.› Richtig oder falsch – diese Idee versetzt Cottard in gute Laune. Das Einzige, was er nicht will, ist, von den anderen getrennt werden. Lieber ist er mit allen zusammen belagert als ganz allein gefangen. Bei Pest kommen heimliche Untersuchungen, Akten, Karteikarten, mysteriöse Ermittlungen und drohende Verhaftungen nicht mehr in Frage. Eigentlich gibt es keine Polizei, keine alten oder neuen Verbrechen, keine Schuldigen mehr, es gibt nur noch Verurteilte, die auf die willkürlichste aller Begnadigungen warten, und unter ihnen selbst die Polizisten.» So hatte Cottard Grund, ging Tarrous Deutung weiter, die Symptome von Angst und Verwirrung, die unsere Mitbürger zeigten, mit jener nachsichtigen und verständnisvollen Genugtuung zu betrachten, die sich ausdrückte in einem «Redet nur, ich habe sie vor euch gehabt».
«Ich konnte ihm noch so oft sagen, die einzige Art, nicht von den anderen getrennt zu sein, sei schließlich ein gutes Gewissen – er sah mich böse an und sagte: ‹Wenn Sie so wollen, ist kein Mensch je mit einem anderen zusammen.› Und dann: ‹Sie können es ja ausprobieren, ich sag’s Ihnen. Die einzige Art, die Leute zusammenzubringen, besteht immer noch darin, ihnen die Pest zu schicken. Sehen Sie sich doch um.› Und eigentlich verstehe ich gut, was er meint und wie bequem ihm das derzeitige Leben vorkommen muss. Wie sollte er im Vorbeigehen nicht die Reaktionen wiedererkennen, die er selbst hatte? Den Versuch, den jeder macht, alle um sich zu haben; die Verbindlichkeit, die man manchmal entfaltet, um einem verirrten Passanten Auskunft zu geben, und die schlechte Laune, die man ihm ein andermal zeigt; das Hasten der Leute in die Luxusrestaurants, ihre Befriedigung, dort zu sein und zu verweilen; den ungeordneten Andrang der Menge, die jeden Tag vor dem Kino Schlange steht, die alle Theater und Tanzlokale füllt, die sich wie eine entfesselte Flut in alle öffentlichen Lokale ergießt; das Zurückweichen vor jeder Berührung, den Hunger nach menschlicher Wärme, der die Menschen dennoch zueinandertreibt, Ellbogen an Ellbogen und Geschlecht an Geschlecht. Cottard hat das alles vor ihnen gekannt, das liegt auf der Hand. Außer den Frauen, denn mit seinem Gesicht … Und ich vermute, wenn er kurz davor gewesen ist, zu den Prostituierten zu gehen, hat er es sich versagt, um keinen schlechten Eindruck zu machen, der ihm später hätte schaden können.
Alles in allem bekommt die Pest ihm gut. Aus einem einsamen Menschen, der er nicht sein wollte, hat sie einen Komplizen gemacht. Denn er ist sichtlich ein Komplize, und zwar einer, der sich gütlich tut. Er ist ein Komplize all dessen, was er sieht, des Aberglaubens, der ungerechtfertigten Schrecken, der Empfänglichkeit dieser Seelen in Alarmbereitschaft; ihrer Manie, so wenig wie möglich von der Pest sprechen zu wollen und doch unaufhörlich von ihr zu sprechen; ihrer Panik und ihres Erblassens bei den leisesten Kopfschmerzen, seit sie wissen, dass die Krankheit mit Kopfweh anfängt; und ihrer gereizten, überempfindlichen, kurz, labilen Sensibilität, die Vergesslichkeiten in eine Beleidigung verwandelt und sich wegen eines verlorenen Hosenknopfs grämt.»
Es kam oft vor, dass Tarrou abends mit Cottard ausging. Dann berichtete er anschließend
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