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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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führten. Es war ein kleines spanisches Haus mit dicken Mauern, Fensterläden aus lackiertem Holz und kahlen, schattigen Zimmern. Es gab Reis, den die Mutter der jungen Männer auftrug, eine freundliche alte Spanierin voller Falten. Gonzalès wunderte sich, denn in der Stadt fehlte der Reis schon. «An den Toren findet man Mittel und Wege», sagte Marcel. Rambert aß und trank, und Gonzalès sagte, er sei ein echter Kumpel, während der Journalist nur an die Woche dachte, die er herumbringen musste.
    Tatsächlich musste er zwei Wochen warten, denn die Wachdienste wurden auf vierzehn Tage verlängert, um die Zahl der Mannschaften zu verringern. Und in diesen vierzehn Tagen arbeitete Rambert ununterbrochen, ohne sich zu schonen, gewissermaßen mit geschlossenen Augen, vom Morgengrauen bis in die Nacht. Spätnachts ging er zu Bett und fiel in schweren Schlaf. Der abrupte Übergang vom Müßiggang zu dieser anstrengenden Arbeit ließ ihm fast keine Träume mehr und keine Kraft. Er sprach wenig von seiner baldigen Flucht. Ein einziger bemerkenswerter Vorfall: Nach einer Woche vertraute er dem Arzt an, dass er sich in der Nacht zuvor zum ersten Mal betrunken habe. Als er aus der Bar kam, hatte er plötzlich den Eindruck, seine Leisten schwöllen an und seine Arme ließen sich rund um die Achsel schwer bewegen. Er dachte, es sei die Pest. Und die einzige Reaktion, zu der er in dem Moment fähig war und die er in Übereinstimmung mit Rieux nicht vernünftig fand, bestand darin, nach oben in die Stadt zu rennen und dort, von einem kleinen Platz, von dem aus man immer noch nicht das Meer sah, aber etwas mehr vom Himmel, über die Stadtmauern hinweg nach seiner Frau zu schreien. Als er, wieder zu Hause, kein Zeichen von Infektion an seinem Körper entdeckte, war er nicht sehr stolz auf diese plötzliche Krise. Rieux sagte, er verstehe sehr gut, dass man so handeln könne: «Auf jeden Fall kann es vorkommen, dass man Lust dazu hat», sagte er.
    «Monsieur Othon hat heute Morgen von Ihnen gesprochen», fügte Rieux, als Rambert gehen wollte, plötzlich hinzu.
    «Er hat mich gefragt, ob ich Sie kenne. ‹Raten Sie ihm doch, nicht in Schmugglerkreisen zu verkehren. Da fällt er auf›, hat er gesagt.»
    «Was soll das heißen?»
    «Das soll heißen, dass Sie sich beeilen müssen.»
    «Danke», sagte Rambert und drückte dem Arzt die Hand.
    In der Tür drehte er sich auf einmal um. Rieux bemerkte, dass er zum ersten Mal seit Beginn der Pest lächelte.
    «Warum halten Sie mich dann nicht vom Weggehen ab? Sie haben die Möglichkeit dazu.»
    Rieux schüttelte auf seine gewohnte Weise den Kopf und sagte, es sei Ramberts Sache, er habe das Glück gewählt, und er selbst, Rieux, habe keine Argumente dagegenzusetzen. Er fühle sich nicht in der Lage zu beurteilen, was in dieser Sache gut oder schlecht sei.
    «Warum sagen Sie mir unter diesen Umständen, ich solle mich beeilen?»
    Nun lächelte Rieux.
    «Vielleicht weil ich auch Lust habe, etwas für das Glück zu tun.»
    Am nächsten Tag sprachen sie über nichts mehr, sondern arbeiteten zusammen. In der Woche darauf war Rambert endlich in dem kleinen spanischen Haus einquartiert. Man hatte ihm im gemeinsamen Zimmer ein Bett hergerichtet. Da die jungen Männer nicht zum Essen kamen und man ihn gebeten hatte, möglichst wenig aus dem Haus zu gehen, lebte er die meiste Zeit allein dort oder unterhielt sich mit der alten Mutter. Sie war mager und rührig, schwarz gekleidet, ihr Gesicht unter dem sehr sauberen weißen Haar war braun und faltig. Schweigsam, lächelte sie nur mit den Augen, wenn sie Rambert ansah.
    Ein andermal fragte sie ihn, ob er nicht befürchte, seiner Frau die Pest zu bringen. Er meinte, das Risiko müsse man eingehen, aber es sei ja minimal, während sie, wenn er in der Stadt bliebe, Gefahr liefen, auf immer getrennt zu werden.
    «Ist sie nett?», fragte die Alte lächelnd.
    «Sehr nett.»
    «Hübsch?»
    «Ich glaube.»
    «Aha, deshalb!», sagte sie.
    Rambert dachte nach. Zweifellos war es deshalb, aber es konnte unmöglich nur deshalb sein.
    «Sie glauben wohl nicht an den lieben Gott?», sagte die Alte, die jeden Morgen zur Messe ging.
    Rambert gab es zu, und die Alte sagte wieder aha, deshalb.
    «Sie müssen zu ihr, da haben Sie recht. Was bliebe Ihnen sonst?»
    Die übrige Zeit lief Rambert an den kahlen, verputzten Mauern entlang im Kreis, streichelte die an die Wände genagelten Fächer oder zählte die Wollknäuel, die in Fransen von der Tischdecke hingen. Abends

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