Die Pest (German Edition)
lesen konnte? «Sie haben kein Herz», hatte man ihm eines Tages gesagt. O doch, er hatte eins. Es half ihm, die zwanzig Stunden am Tag zu ertragen, in denen er Menschen sterben sah, die zum Leben geschaffen waren. Es half ihm, jeden Tag wieder anzufangen. Nunmehr hatte er gerade genug Herz dafür. Wie hätte dieses Herz dazu ausreichen sollen, Leben zu retten?
Nein, es waren keine Hilfen, die er tagaus, tagein verteilte, sondern Auskünfte. Das konnte man natürlich nicht als menschlichen Beruf bezeichnen. Aber wem in dieser schreckerfüllten, dezimierten Menge hatte man schließlich noch Zeit gelassen, seinen menschlichen Beruf auszuüben? Es war noch ein Glück, dass es die Müdigkeit gab. Wäre Rieux ausgeruhter gewesen, hätte ihn dieser überall verbreitete Todesgeruch sentimental machen können. Aber wenn man nur vier Stunden geschlafen hat, ist man nicht sentimental. Man sieht die Dinge, wie sie sind, das heißt, man sieht sie gemäß der Gerechtigkeit, der hässlichen, lachhaften Gerechtigkeit. Und auch die anderen, die Verurteilten, merkten es genau. Vor der Pest wurde er wie ein Retter empfangen. Er würde alles mit drei Pillen und einer Spritze in Ordnung bringen, und man drückte seinen Arm, während man ihn durch den Flur geleitete. Das war schmeichelhaft, aber gefährlich. Jetzt dagegen erschien er mit Soldaten, und es waren Kolbenhiebe nötig, damit sich die Angehörigen zum Öffnen entschlossen. Am liebsten hätten sie ihn und die ganze Menschheit mit sich in den Tod gerissen. Oh, es stimmte wohl, dass die Menschen nicht ohne Menschen auskamen, dass er genauso wehrlos war wie diese Unglücklichen und das gleiche bebende Mitleid verdiente, das er in sich anwachsen ließ, wenn er sie verlassen hatte.
Das waren zumindest die Gedanken, die Doktor Rieux in diesen endlosen Wochen neben jenen anderen wälzte, die sein Getrenntsein betrafen. Und die gleichen waren es auch, die er auf dem Gesicht seiner Freunde widergespiegelt sah. Doch die gefährlichste Auswirkung der Erschöpfung, die nach und nach all die befiel, die weiterhin gegen die Plage kämpften, lag nicht in dieser Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Ereignissen, sondern in der Nachlässigkeit, in die sie verfielen. Sie neigten damals nämlich dazu, alle Bewegungen zu vermeiden, die nicht absolut unerlässlich waren und die ihnen immer über ihre Kräfte zu gehen schienen. So kam es, dass diese Männer immer häufiger die Hygienevorschriften vernachlässigten, die sie aufgestellt hatten, dass sie manche der zahlreichen Desinfizierungen vergaßen, denen sie sich selbst unterziehen mussten, dass sie mitunter, ohne gegen Ansteckung geschützt zu sein, zu den an Lungenpest Erkrankten eilten, weil sie erst im letzten Moment davon informiert worden waren, dass sie in verseuchte Häuser mussten, und es ihnen zu anstrengend erschienen war, vorher an irgendeinen Ort zu gehen, um die notwendigen Einträufelungen vorzunehmen. Das war die eigentliche Gefahr, denn es war eben der Kampf gegen die Pest, der sie damals am verwundbarsten für die Pest machte. Sie setzten ja auf den Zufall, und der Zufall gehört niemandem.
Es gab jedoch einen Menschen in der Stadt, der weder erschöpft noch entmutigt zu sein schien und der das wandelnde Bild der Zufriedenheit blieb. Das war Cottard. Er hielt sich weiter abseits, wobei er seine Beziehungen zu den anderen aufrechterhielt. Aber er hatte sich entschieden, Tarrou zu besuchen, sooft es dessen Arbeit erlaubte; einerseits weil Tarrou gut über seinen Fall Bescheid wusste und andererseits, weil er es verstand, den kleinen Rentner mit gleichbleibender Herzlichkeit zu empfangen. Es war ein beständiges Wunder, aber Tarrou blieb trotz der schweren Arbeit, die er leistete, immer wohlwollend und aufmerksam. Sogar wenn er an manchen Abenden vor Müdigkeit eingeschlafen war, fand er am nächsten Tag wieder neue Energie. «Mit dem kann man reden», hatte Cottard zu Rambert gesagt. «Weil er ein Mensch ist. Man wird immer verstanden.»
Deshalb konzentrieren sich Tarrous Aufzeichnungen zu jener Zeit allmählich auf die Person Cottard. Tarrou hat versucht, eine Darstellung von Cottards Reaktionen und Überlegungen zu liefern, so wie dieser sie ihm anvertraute oder wie er selbst sie deutete. Unter der Überschrift «Cottards Verhältnis zur Pest» füllt diese Darstellung einige Seiten des Tagebuchs, und der Erzähler hält es für nützlich, an dieser Stelle einen Einblick zu geben. Tarrous allgemeine Ansicht über den
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