Die Pest Zu London
Sterblichkeit in der Gasse oder an dem Hof so groß war, daß niemand mehr übrig war, um den Totengräbern oder Küstern zu melden, daß da Tote zu beerdigen waren. Man hat erzählt – was daran wahr ist, weiß ich nicht –, daß einige dieser Leichen schon so zerfallen und in Fäulnis übergegangen waren, daß man sie nur mit Schwierigkeiten fortschaffen konnte; und da die Leichenkarren nicht näher herankommen konnten als bis zum Tor der Gasse an der High Street, war es nur um so schwieriger, sie zum Verladen zu bringen, aber ich kann nicht mit Gewißheit sagen, wieviele Leichen dort liegengeblieben waren. Ich bin sicher, daß es gewöhnlich nicht so war.
Ich habe erwähnt, wie die Leute in einen Zustand geraten waren, der sie am Leben verzweifeln ließ und dem sie sich überließen, und eben dies hatte nun eine merkwürdige Wirkung, die drei oder vier Wochen anhielt; das war, es machte sie kühn und wagemutig, sie hielten sich nicht mehr im Haus zurückgezogen, sondern verloren die Scheu voreinander und gingen dahin und dorthin und überallhin und begannen wieder miteinander zu sprechen. So sagte etwa einer zum andern: »Ich frage dich nicht, wie es dir geht, und sage auch nicht, wie es mir geht; denn das ist bestimmt, daß wir alle hingehn; drum ist es gleich, ob einer krank ist oder gesund«; und so liefen sie ohne jede Vorsicht, wohin und zu wem es sich eben traf.
Es brachte die Leute nicht nur in öffentliche Gesellschaft miteinander, sondern es brachte sie auch in erstaunlichen Massen in die Kirchen. Sie kümmerten sich nicht mehr vorsorglich, wem sie nah und wem sie fern säßen, welche ekelerregenden Gerüche ihnen begegneten oder in welchem Zustand die andern sich befänden, sondern sie betrachteten sich alle als tote Menschen und kamen ohne die geringste Ängstlichkeit in die Kirchen und drängten sich zusammen, als ob ihr Leben im Vergleich zu dem Werk, das zu vollbringen sie dort hingekommen waren, nichts wert wäre. In der Tat, der Eifer, den sie durch ihr Kommen zeigten, und der Ernst und die Andacht, die sie durch die Aufmerksamkeit bekundeten, mit der sie zuhörten, machte es offensichtlich, welch einen Wert die Menschen alle dem Gottesdienst beimessen würden, wenn sie jedesmal, wenn sie zur Kirche gehen, dächten, es werde das letzte Mal für sie sein.
Auch war es nicht ohne noch andere auffallende Wirkungen, räumte es doch jede Art von Vorurteil oder Gewissensbedenken hinsichtlich der Person fort, die sie auf der Kanzel fanden, wenn sie zur Kirche kamen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in einer so allgemeinen und schrecklichen Katastrophe mit den andern auch viele Geistliche der Pfarrkirchen umgekommen waren; und andere hatten nicht die Kraft gehabt auszuhalten, sondern waren, sowie sie einen Weg fanden davonzukommen, aufs Land fortgezogen. Da dann einige Pfarrkirchen ganz unbesetzt und verlassen waren, hatten die Leute keine Skrupel, solche Reformierte, denen man ein paar Jahre zuvor kraft eines Parlamentsgesetzes, Act of Uniformity genannt, alle Einkünfte entzogen hatte, nunmehr in die Kirchen zum Predigen zu holen; auch machte der Klerus in diesem Fall keine Schwierigkeiten, deren Mitwirkung zuzulassen; die Folge war, daß viele von denen, die sie die stummgemachten Prediger nannten, bei dieser Gelegenheit ihren Mund aufgetan erhielten und öffentlich zum Volk predigten.
Hier können wir die Bemerkung machen, und ich hoffe, man wird es nicht für unangebracht halten, wenn ich es einfüge, daß die Aussicht auf den nahen Tod Menschen, die den Willen zum Guten haben, bald miteinander versöhnen würde, und daß es hauptsächlich der Bequemlichkeit, die wir im Leben haben und mit der wir diese Dinge weit von uns wegschieben, zuzuschreiben ist, daß Zwist entfacht wird, Groll gehegt wird, Vorurteile, christlicher Nächstenliebe und Einheit zum Trotz, so festgehalten und so weit getrieben werden unter uns, wie es geschieht. Noch ein Pestjahr, und alle diese Differenzen wären beglichen; ein naher Umgang mit dem Tod oder mit Krankheiten, die den Tod androhen, würde die Galle aus unserem Gemüt abschöpfen, Feindseligkeiten unter uns beseitigen und uns dazu bringen, die Dinge mit anderen Augen anzusehen, als wir es bislang taten. Wie die Leute, die es immer mit der Kirche gehalten hatten, zu dieser Zeit keinen Anstoß daran nahmen, daß Reformierten erlaubt wurde, ihnen zu predigen, so waren die Reformierten, die mit einer ungewöhnlichen Voreingenommenheit von der Gemeinschaft der
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