Die Pestärztin
Leichen auf der Straße. Lucia erkannte Bruder Caspar, neben sich die Bibel, aber auch Clemens' blutbeflecktes Schwert. Und eine Menge toter und verletzter Aufrührer um ihn herum. Der alte Kreuzritter hatte seine Haut und das Leben seiner Schutzbefohlenen teuer verkauft!
Und Katrina ... Lucia schluchzte auf, als sie ihren Körper über einer Mauer hängen sah. Sie konnte ihre Freundin und Helferin nur noch an der Kleidung erkennen. Der Mob musste sie geschändet, zu Tode geschleift und gefoltert haben. Womöglich hatte man sie für die Pestärztin gehalten.
Lucia war wie erstarrt, doch unter ihr rührte sich jetzt die Scheckstute. Der kleine Stallbursche auf Judas Maultier schien entschlossen, sein Heil in der Flucht zu suchen, und die verängstigte Stute machte Anstalten, ihrem Stallgenossen zu folgen.
Inzwischen drangen auch Wortfetzen an Lucias Ohr. Die Stadtbüttel - und die Aufrührer, die eben mit ihrer Verteidigung begannen!
»Eine Hexe ... entkommen ...«
»Das Haus loderte plötzlich auf!«
»Ich schwöre, Stadtwächter, wir haben keine Fackel auch nur in die Nähe gebracht.«
»Die Erde hat Feuer gespuckt, als wir den falschen Mönch zu Fall brachten!«
»Seht selbst, Stadtwächter, er trägt das Schwert noch in der Hand! Geziemt sich das für einen Gottesmann?«
Lucia wurde erneut von Grauen erfasst. Diese Kerle warfen ihr vor, ihr eigenes Haus angezündet zu haben! Noch dazu durch Hexenkunst! Wenn die Büttel das glaubten, wäre sie in Lebensgefahr! Der Mob würde kaum warten, bis der Bischof die Sache untersuchte.
Lucia atmete tief durch. Sie musste hier weg, musste fort aus der Stadt!
Sie gab der Stute die Zügel. Hinter dem Wallach des Jungen sprengte sie in Richtung Rheinufer.
11
D er kleine Junge lenkte sein Maultier Richtung Fischmarkt; hier mochten Verwandte von ihm leben. Kurz vor dem Fischtor machte er Anstalten, in eine Seitengasse abzubiegen, doch vorher verhielt er den Wallach.
»Wo wollt Ihr hin, Herrin?«, fragte er schüchtern. »Ich könnt Euch mitnehmen, mein Onkel hat eine Schenke hier. Da kann ich vielleicht Arbeit finden, sein Knecht ist an der Pest gestorben. Es gibt auch einen Stall für den Braunen. Ihr seid doch keine Jüdin, oder?«
Der Onkel des Kleinen schien dessen Anstellung bei Juden nicht gern gesehen zu haben. Aber Lucia hatte auch als Christin wenig Lust, in einer Schenke Unterschlupf zu suchen, erst recht nicht in diesen Zeiten. Sie schüttelte den Kopf.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, erklärte sie dem Jungen. »Ich verlasse Mainz. Die Stute nehme ich mit. Sie gehörte meiner Freundin, Lea hätte bestimmt nichts dagegen gehabt.«
Der Kleine nickte und kaute auf seinen Lippen.
»Und der Braune?«, fragte er dann. Das Maultier war für ihn und seine Familie ein Vermögen wert.
»Behalte ihn«, entschied Lucia. »Falls kein Mitglied der Familie Speyer ihn zurückfordert. Du hast deinen Herren brav gedient und auch in größter Not zu ihnen gestanden. Betrachte das Tier als Belohnung.«
Der Junge strahlte und dankte ihr überschwänglich. Lucia wehrte ab. Schließlich hatte sie nicht ihr eigenes Hab und Gut verschenkt ... und genau genommen hätte es da auch gar nichts mehr gegeben, das zu verschenken sich lohnte. Ihr einzig wertvoller Besitz, der Kanon des Ibn Sina, verbrannte eben mit Clemens' Leiche im Haus des jüdischen Arztes. Und ihre wenigen anderen Habseligkeiten waren im Pesthaus an der Augustinergasse in Flammen aufgegangen. Sie besaß nur noch die Kleider, die sie am Leibe trug und die obendrein das Judenzeichen trugen, sowie die Maultierstute ... und den Silberleuchter, den sie vorhin in die Satteltasche hatte gleiten lassen. Letzteres bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Aber sie hatte den Leuchter nicht stehlen wollen. Er sollte nur nicht wieder in die Hände dieser abscheulichen Plünderer fallen. Nun war er der einzige Wertgegenstand in ihrem Besitz. Ob Lea ihr zürnen würde, wenn sie ihn verkaufte?
Der kleine Knecht war unter tausend Segenswünschen weggeritten, und Lucia musste sich auf ihre Scheckstute konzentrieren, die ihrem Stallgefährten nur zu gern gefolgt wäre. Doch die Stute ergab sich rasch Lucias Wünschen und trug sie zum Fischtor. Der Fischmarkt war jetzt, gegen Abend, verlassen, das Tor zu Lucias Verwunderung verschlossen. Im Wächterhaus langweilten sich zwei Stadtbüttel.
»Wollt ihr mich bitte herauslassen, ihr Herren?«, fragte Lucia so höflich, aber auch so bestimmt wie möglich. Am Sattel angeschnallt
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