Die Pestärztin
schnell wie möglich zu befreien. Aber dann sah sie Leas Maultierstute, und auf einmal erfasste sie kaltblütige Ruhe.
Zu Pferde! Zu Pferde würde sie hier herauskommen! Und wenn sie den ganzen Mob niederritt!
Aber sie konnte nicht ohne Sattel reiten - zumindest hatte sie das noch nie getan.
»Gevatterin! Was soll ich bloß machen ...?« Die verängstigte kleine Stimme vermochte das Scharren und verzweifelte Wiehern der Tiere kaum zu übertönen.
Lucia zwinkerte ins Halbdunkel und sah den kleinen Boten von vorhin. Starr vor Schrecken duckte der Junge sich unter eine Heuraufe. Er musste den Verstand verloren haben. Die Hinrichtung, die Brände ... womöglich hatte das Kind auch Juda und Benjamin sterben sehen.
»Die Herrin ist tot. Und ihr Mann. Und ihr Bruder. Sie haben das Haus angesteckt ... Ich wollte der Herrin sagen, dass Ihr kommt. Ich wusste, Ihr würdet kommen. Aber sie haben mich weggedrängt und Feuer gelegt, und die Frauen ... die Frauen haben versucht, die Treppe runterzukommen, aber sie haben die Treppe auch ... Sie haben so geschrien. Ich ... ich ... ich ... Was soll ich bloß machen?«
Der kleine Junge hatte die Hände um die Knie geschlungen und schaukelte in einem unheimlichen Rhythmus vor und zurück.
»Aufstehen!« Lucia ging zu ihm und schlug ihm zweimal kräftig ins Gesicht. Sie wollte nicht grausam sein, aber das riet Ar-Rasis Handbuch bei Hysterie. Das Kind sah sie erschrocken an, schien dann aber zu sich zu kommen.
»Und sattele die Pferde auf. Eins für dich, eins für mich! Ich nehme die Stute der Herrin. Wo sind die Sachen?« Lea blickte sich suchend um und sah Sättel und Zaumzeug in einer Ecke. Rasch griff sie nach dem Sattel von Leas Stute, während der Junge das Kopfstück brachte. Er warf der Scheckstute und dem knochigen braunen Maultierwallach, der neben ihr stand, die Zäumungen über.
»Der andere Sattel, nun mach schon!«, herrschte Lucia ihn an. Sie konnte den Kleinen auf keinen Fall allein hier zurücklassen.
»Brauch ich nicht, ich reite ohne!«
Der Junge schien nun wieder halbwegs klar zu sein; auf jeden Fall peitschte er den widerstrebenden Wallach aus dem noch relativ kühlen Stall in die Gluthitze des Hofes. Auch Lucias Stute wollte nicht hinaus; im Stall schien sie sich sicherer zu fühlen. Doch als der Kleine sein Reittier nach draußen gezwungen hatte, folgte die Schecke, nervös, aber artig.
Lucia erklomm ihre Stute, und der Junge sprang geschickt wie ein Floh auf den Wallach.
»Und jetzt schnell! Ruf den Leuten zu, sie sollen Platz machen! Wenn sie nicht gehen, reite sie um! Lass dich durch nichts aufhalten«, wies Lucia ihn an. »Wenn du anhältst, nehmen sie dir das Pferd weg und trampeln dich tot!«
Der Kleine ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schlug dem Wallach die Fersen in die Flanken und setzte erneut die Peitsche ein. Der Braune galoppierte los; die Scheckstute folgte ihm. Lucia versuchte, nicht nach unten, sondern nur geradeaus zu blicken, als sie durch die Menge galoppierten. Es war ihr egal, wie viele sie niedertrampelte, sie wollte nur heraus aus dieser Hölle. Dem Jungen vor ihr schien der Ritt beinahe Spaß zu machen. Er saß wie angeklebt auf seinem Maultier, und sein Ruf »Platz da!« klang so herrisch, als spränge hier der Kaiser persönlich durch die Menge.
Erst als sie das Judenviertel hinter sich ließen, das Domviertel durchquert hatten und in die Augustinergasse einritten, verhielten sie die Tiere. Eigentlich hätte es hier ruhiger sein sollen, doch sie hörten Schreie und prasselnde Flammen, so wie im Judenviertel. Schwarzer Rauch drohte ihnen den Atem zu nehmen. Und weitere, irre Hassgesänge beleidigten ihre Ohren.
Lucia trieb ihre Stute vorwärts. Ihre Augen brannten vom Qualm, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Es konnte nicht wahr sein. Es war eine Sinnestäuschung. Sie konnte nicht sehen, was sie sah ...
»Oh, Herrin! Euer Haus!« Erst die entsetzte Stimme des Jungen riss Lucia in die Wirklichkeit zurück. Eine albtraumhafte Wirklichkeit, in der Feuerwehr und Stadtbüttel Menschen vor einem brennenden Haus zusammentrieben. Feuerwehrhelfer versuchten, die Flammen wenigstens auf das Pesthaus zu begrenzen und die Nachbargebäude zu schützen. Hier griff die Obrigkeit beherzter ein als im Judenviertel, wenn auch zu spät!
»Die Hexe soll brennen!«
Obwohl die Büttel auf sie einschlugen, waren die Anführer des Aufruhrs immer noch nicht zum Schweigen gebracht. Und zu Lucias ungläubigem Entsetzen lagen auch hier
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