Die Pestärztin
schlugen die Plünderer noch ein. Von den Frauen und jüngeren Kindern war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sich im Haus versteckt ... Lucia durfte gar nicht daran denken, was dort womöglich mit ihnen geschah.
Sie sollte es gleich darauf erfahren. Selbst die Frauen im Mob neben ihr schrien auf, als sie Körper durch die Luft wirbeln sahen. Die Mörder im Haus warfen Kleinkinder aus dem dritten Stock.
»Anzünden!«, skandierte der Mob. »Brennt alles nieder!«
Lucia erkannte mit eisigem Schrecken, dass niemand sich über den Mord an den Kindern empörte. Im Gegenteil, die Leute aus ihrer Gruppe begannen, auf die kleinen Körper einzutreten.
Lucia versuchte, wegzukommen, doch an Umdrehen war nicht zu denken. Lediglich eine Flucht nach vorn war möglich. Also eilte Lucia vorwärts. Sie sah das Haus neben dem »Güldenen Rad« in Flammen stehen. Die christliche Schenke würde ebenfalls Feuer fangen; aber das schien den Aufrührern egal zu sein. Der Wirt und seine Huren waren wohl auch schon geflohen oder hatten sich den Plünderern angeschlossen.
Die Juden dagegen schienen sich diesmal zur Verteidigung ihres Viertels entschlossen zu haben. Immer wieder stellten sich den Plünderern und Mördern bewaffnete Trupps jüdischer Männer entgegen, die mit dem Mut der Verzweiflung kämpften. Zu ihrem Schrecken erkannte Lucia Juda ben Eliasar, Leas Mann, am Eingang zur Schulstraße. Er musste rechtzeitig zur Niederkunft seiner Frau nach Hause gekommen sein. Und nun das! Lucia beobachtete starr vor Entsetzen, wie der junge Mann sich gleich drei christlichen Gegnern tapfer entgegenstellte, und unterdrückte einen Schrei, als man ihn niederstreckte. Die Juden fochten längst nicht so ungeschickt, wie man es ihnen gern unterstellte, aber die Übermacht war gigantisch. Und der Mob kreischte jedes Mal wütender auf, wenn einer der Angreifer getroffen wurde. Für jeden erschlagenen Christen standen zehn weitere in der Reihe, aufgeputscht, wütend und vom Branntwein enthemmt.
Lucia schoss der Gedanke an die Haschaschini durch den Kopf. Bruder Caspar musste sich geirrt haben. Es war keine Droge nötig, um Menschen in einen blinden Kampfrausch zu versetzen. Wahrscheinlich arbeiteten die Führer der Haschaschini genau wie die Judenschläger und Flagellanten: mit aufrührerischen Worten und Versprechungen: Das Paradies nach dem Tod - Plünderungen im Diesseits. Und vielleicht eine Droge, die Schmerzen bekämpfte und bewirkte, dass die Männer die Anstrengungen des Kampfes nicht spürten.
Die waren den Kämpfern hier allerdings rasch anzumerken: So mancher fettleibige, betrunkene Aufrührer fiel dem Widerstand der Juden zum Opfer. Inzwischen aber drohten Verteidigern und Angreifern auch gleichermaßen Gefahren durch das Feuer. Immer mehr Häuser um sie herum gingen in Flammen auf. Dies konnte eine Falle werden, in der sich die Brandstifter selber fingen!
Lucia, die verzweifelt nach einem Ausweg suchte, hörte Schreie aus den umliegenden Gassen.
»Sankt Quintin brennt!«
»Die Juden haben die Kirche angezündet!«
Lucia erfüllte diese Nachricht mit nacktem Grauen. Wenn es in dieser Gegend brannte, konnten auch die Häuser der Speyers betroffen sein.
»Aber deren Hurenkirche auch!«, schrie jemand. »Und wie schön ihre Schriften brennen! Den Judenbischof haben wir mit reingeschickt und den Rabbiner auch!« Johlende Trupps mit Fackeln stürmten aus einer Seitenstraße, die direkt zur Synagoge führte. Das Bethaus der Juden stand in Flammen.
Die Schulstraße war mit Rauch erfüllt, Lucia konnte kaum mehr atmen. Der Mob passierte das Haus des Arztes, in dem Clemens gestorben war. Es brannte lichterloh. Clemens' Leiche würde zu Asche werden, wie er es sich gewünscht hätte ...
Lucia stiegen die Tränen in die Augen, wobei sie nicht wusste, ob es der beißende Qualm war oder die Erinnerung an jenen letzten Blick auf ihren Geliebten. Auf der Straße lagen Leichen; die Verteidiger der Schulstraße mussten erbittert gekämpft haben. Lucia sah Benjamin von Speyers abgeschlagenen Kopf im Rinnstein.
Würde dieses Grauen jemals enden?
Und würde sie dann noch am Leben sein?
Auf den Straßen herrschte jetzt das pure Chaos. Menschen drängten in beide Richtungen. Manche trieben Juden vor sich her, andere waren bereits selbst auf der Flucht vor dem Feuer. Zudem raste eine Herde verängstigter Pferde und Maultiere auf die Straße. Lucia erkannte die Tiere der Speyers. Jemand musste sie befreit haben, wie Benjamin es immer
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