Die Pestärztin
unter ihren boshaften Mitbürgern, als würde sie von einer Glocke aus venezianischem Glas geschützt.
Lucia jedoch nahm all das auf, empörte sich darüber und hielt ihre christlichen Glaubensgenossen bald für ziemlich dumm. Sie wäre lieber Jüdin gewesen, oder auch Maurin wie Al Shifa.
»Ach, wünsch dir das nicht, Tochter. Das Leben einer Frau ist nicht einfach in meinem Land!«, sagte Al Shifa lächelnd, als Lucia diesen Wunsch eines Tages laut äußerte. Wieder einmal bewunderte Lucia die besonderen Fähigkeiten ihrer Pflegemutter, diesmal im Bereich der Krankenpflege. Esra hatte sich beim Spielen verletzt, und Al Shifa behandelte die Wunde mit einem Umschlag und einer heilenden Salbe. Lucia beobachtete fasziniert, welche Essenzen und Kräuter sie dazu verwendete.
»Wenn ich groß bin, werde ich Medikus!«, erklärte sie schließlich, löste damit aber nur wieherndes Lachen bei den Söhnen der Speyers aus.
»Bei den Mauren geht das, nicht wahr, Al Shifa? Da gibt es Schulen! Ich gehe einfach nach Al Andalus, und dann ... « Lucia schaute ihre Pflegemutter hoffnungsvoll an, senkte dann aber enttäuscht den Blick, als Al Shifa bedauernd den Kopf schüttelte.
»Nein, Liebes, Medikus kannst du auch in Al Andalus nicht werden«, zerstörte sie Lucias Träume. »Es gibt Schulen, aber sie unterrichten keine Mädchen. Einzig in Salerno soll es eine Schule geben, an der Frauen in Heilkunde unterwiesen werden, aber wie viel sie dort wirklich lernen, weiß ich nicht. Du wirst dich also mit dem bescheiden müssen, was ich dir beibringen kann. Komm, wir sehen mal, wie es Lea geht!«
Auch Lucias Milchschwester war zurzeit krank. Sie schlug sich mit einer bösen Erkältung herum, und Sarah saß besorgt an ihrem Bett. Al Shifa scheuchte Grietgen herum, ihr Kräuter für Umschläge zu stampfen und Tee aus Salbei und Weidenrinde aufzubrühen. Das Mädchen war verärgert darüber und herrschte Lucia an, als sie in die Küche kam, um die Sachen zu holen.
»Was soll das heißen, es müsste längst fertig sein?« Unwirsch füllte Grietgen den Tee in einen kostbaren Krug aus Keramik, der eigentlich schonender behandelt werden sollte. »Spiel dich nicht auf, Herzchen, du bist nicht meine Herrschaft! Als gutes Christenkind solltest du sowieso nicht ständig an den Lippen dieser Hexe hängen! Geh lieber zur Kirche, und bete für deine Freundin. Vielleicht erhört Gott dich ja, auch wenn sie Hebräerin ist!«
Erschrocken zog Lucia sich zurück und dachte nach. Ob es wirklich half, wenn sie zur Kirche ging? Gott konnte Lea sicher schneller gesund machen als alle Kräuter Al Shifas. Der Pfarrer predigte schließlich jeden Sonntag von den Wundern, die Jesus und sein Vater geschehen ließen. Und beten war einfacher als studieren - Lucia hatte Herrn von Speyer sagen hören, man müsse sieben Jahre und mehr lernen, um Medikus zu werden.
Das Mädchen brachte also nur rasch den Tee nach oben und stahl sich dann aus dem Haus. Die Kirche St. Quintin, die älteste Pfarrkirche von Mainz, lag nur wenige Gassen von der Schulstraße entfernt. Jetzt, am Alltag, jagte der Kirchweg Lucia keine Angst ein. Die Kirche jedoch war bedrohlich, und Lucia musste sich überwinden, um einzutreten. Am wirkungsvollsten war das Gebet sicher vorn am Altar, aber sie traute sich nicht, in der ersten Bankreihe Platz zu nehmen. Stattdessen verkroch sie sich in einer Kapelle und betete zu einer Jesusstatue mit offenem, blutigem Herzen. Lucia empfand es als tröstlich, dass der Gottessohn trotzdem ganz gesund aussah. Wenn er mit einer solchen Wunde herumlaufen konnte, schaffte er bestimmt auch eine schnelle Heilung bei Lea.
Lucia formulierte also förmlich ihre Bitte, machte sich dann aber Sorgen, ob Gott sie auch verstand. Die Priester sprachen schließlich immer Lateinisch zu ihm! Nun, das konnte sie auch. Langsam, um nur ja keinen Fehler zu machen, der Gott womöglich so erzürnte wie Davids Grammatikfehler seinen Hebräischlehrer, sprach sie die Worte noch einmal in Latein, dann auf Hebräisch. Das musste Jesus eigentlich gefallen; er war doch der König der Juden gewesen. In der Folge sagte Lucia alle Gebete auf, die sie kannte, sowohl christliche als auch jüdische. Kniend in der kalten Kirche war das harte Arbeit, doch Gott musste sehen, wie ernst es ihr war. Erst als es draußen dunkel wurde und die Kerzen die Kirche in noch gespenstischeres Licht hüllten, bekreuzigte sich Lucia, knickste brav vor dem Allerheiligsten und machte sich auf den Heimweg. Sie
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