Die Pestärztin
gewissenhaft sprach. Die Maurin pflegte dazu jede andere Arbeit zu unterbrechen und sich in Richtung Osten zu Boden zu werfen. Letzteres traute Lucia sich nicht; vielleicht lag es ja daran, dass auch Allah ihre Fürbitten bislang stets überhörte. Aber dem Mädchen gefielen die Worte, die Al Shifa dabei murmelte. Der Singsang klang tröstlich und auch irgendwie geheimnisvoll.
Am nächsten Morgen ging es Lea immer noch nicht gut, aber das Fieber war tatsächlich gesunken. Lucia durfte ein paar Stunden mit der Freundin spielen und ihr vorlesen, aber Schule hielt Al Shifa noch nicht wieder mit den Mädchen. Außerdem langweilte sich Lucia um die Mittagszeit, als Lea erschöpft schlief. Ein bisschen missmutig folgte sie Al Shifa ins Bücherkabinett. Die reichhaltige Büchersammlung Benjamin von Speyers füllte ein ganzes Zimmer und bildete das Allerheiligste seines Hauses. Grietgen ließ er hier nicht herein, das regelmäßige Abstauben der Folianten übernahmen Sarah oder Al Shifa selbst. Viel Arbeit machte das Zimmer dabei nicht. Im Gegensatz zu den sonstigen Wohnräumen, die Sarah mit zum Teil reich verzierten, filigranen Möbelstücken aus dem Orient bestückt hatte, bestand die Einrichtung nur aus einem Lesepult, einem schmucklosen Eichentisch und einem Stuhl. Auf dem Tisch lagen Schreibmaterialien. Benjamin pflegte hier auch seine private Korrespondenz zu erledigen. Für die geschäftliche besaß er ein Kontor bei seinen Lagerhäusern am Rhein, nahe der Anlegestelle. Von Speyer versuchte, seine Arbeit und sein Familienleben strikt getrennt zu halten. Den Abend, und erst recht den Sabbat, widmete er Frau und Kindern - sowie seiner großen, unschätzbar wertvollen Büchersammlung. Das Bücherkabinett war seine ganze Freude, und er wollte nicht gestört werden, wenn er sich für ein paar Stunden hierhin zurückzog. Lediglich Esra, sein ältester Sohn, wurde mitunter zugelassen, auch wenn er sich nicht wirklich für die Bücher interessierte.
Lucia und Lea betraten den Raum nur selten, meist im Schlepptau von Sarah oder Al Shifa, die genau aufpassten, dass die Mädchen ja nichts anfassten. Lea hatte dazu auch keine Lust. Anstelle der Bücher schaute sie sich lieber die hübschen Tonfliesen mit aufgemalten Figuren an, mit denen der Fußboden des Raums ausgelegt war. Lucia dagegen war neugierig. Voller Ehrfurcht betrachtete sie die Folianten und Pergamentrollen, die sich in den Regalen häuften. Sie nahmen die gesamten Wände des großen, hellen Raumes ein. Nur im Bereich der mit feinstem Pergament bespannten Fensteröffnungen wurden keine aufbewahrt. Speyer fürchtete wohl, dass hier Feuchtigkeit oder Sonnenstrahlen eindringen könnten, die seine Schätze verdarben.
Lucia strich bewundernd an den Regalen entlang und versuchte, die Titel der Bücher und Codices zu lesen. Leicht fiel ihr das nicht, waren die Werke doch in den verschiedensten Sprachen abgefasst. Lucia entzifferte Latein und ein wenig Griechisch. Die hebräischen Schriftzeichen erkannte sie, vermochte sie aber nicht zu deuten: Der Hebräischlehrer der Jungen pflegte Lucia aus dem Zimmer zu scheuchen, wenn sie dem Unterricht lauschen wollte. Wieder so eine Sache, die nur Jungen vorbehalten war!
»Latein, Griechisch, Hebräisch ...« Lucia sang die Sprachen vor sich hin, die sie erkannte. Aber dann stockte sie und blickte mit gerunzelter Stirn auf mehrere Schriften, die mit ganz andersartigen Zeichen beschrieben waren. Auch das Material war seltsam; es schien kein Pergament zu sein wie bei den meisten anderen Büchern. Lucia griff vorsichtig danach und tastete über die raue Oberfläche der zusammengehefteten Blattsammlung. Als Al Shifa hinter ihr erschien, zog sie erschrocken die Hand zurück.
»Ich ... ich wollte nicht ...«
Al Shifa lächelte und zog den Kodex aus dem Regal. Vorsichtig legte sie ihn in Lucias Augenhöhe auf den Tisch.
»Schau es dir nur an, Tochter. Du hast nichts zu befürchten, es gehört mir.«
»Dir?« Lucia war verblüfft. Al Shifa war eine Sklavin. Außer der Kleidung, die sie trug, durfte sie eigentlich gar nichts besitzen.
Die Maurin verstand. »Sagen wir, die Schriften kamen mit mir«, erklärte sie. »Ansonsten gehören sie natürlich dem Herrn. Aber er kann nicht viel damit anfangen. Zwar spricht er ein paar Worte meiner Sprache, aber lesen kann er sie nicht.«
»Dann ist es deine Sprache?«, erkundigte sich Lucia. Sie hatte die Zeichen fast für Blütenranken gehalten. Auf einigen der maurischen
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