Die Pestärztin
am Sabbat verboten. Ihr heiliger Tag diente allein der Ruhe und Gelehrsamkeit. Üblicherweise verbrachten die Männer fast den ganzen Tag in der Synagoge; an diesem Ostersamstag jedoch verzichtete Benjamin von Speyer auf die Teilnahme am gemeinsamen Studium der Thora. Es war besser, die Christen nicht durch den Anblick der Juden zu reizen, die sie an der vorgeschriebenen Tracht, dem Judenhut und dem gelben Ring auf der Kleidung, sofort als solche erkannten. An hohen kirchlichen Festtagen blieb man als »Hebräer« lieber zu Hause.
Lucia durfte niemals mit in die Synagoge, so wie die Kinder der Speyers; dennoch liebte sie den Sabbat. Sie freute sich an jedem Freitag auf das Sabbatmahl und genoss die Zeremonie mit wohligem Schauern, wenn Sarah die Sabbatkerzen entzündete und Benjamin den Feiertag willkommen hieß. In Grietgens Familie wurden christliche Feste kaum begangen. Zwar schleppte die Küferin ihre Brut in die Kirche; danach aber blieben die Kinder auf sich allein gestellt, während sie selbst durch die Schenken zog. So war es kein Wunder, dass Lucia sich weit mehr auf Chanukka und Pessach freute als auf Weihnachten und Ostern. Auch der Kirchgang behagte ihr nicht, obwohl sie die christlichen Lieder und Gebete ebenso rasch lernte wie die der Juden. Aber die Kirche war nicht warm und gemütlich wie die Wohnstube der Speyers. Lucia empfand den nur von Kerzen erhellten großen Raum als dunkel, während es den meisten Christen gerade umgekehrt erging. Die Küfer-Kinder konnten sich nicht sattsehen an den dicken Wachskerzen und den Laternen vor den Heiligenbildern. Bei den Speyers dagegen erhellten Kerzen in Hänge- und Wandleuchtern die Wohnstube, und Lea hatte sogar ein Nachtlicht, eine Art gläserne Kugel, in die man eine Kerze stellen konnte. Verglichen mit all dem war die Christenkirche düster und unheimlich.
Auch der Messe konnte Lucia nichts abgewinnen. Das endlose Knien während der Predigt und der Gebete strengte sie an und langweilte sie. Und zu allem Überfluss stürzten die Christenkinder sich auf das »Hurenkind«, sobald der Gottesdienst zu Ende war. Sie bewarfen Lucia mit Unrat, jagten sie durch die Straßen und versuchten, sie in die Höfe der Schenken und Freudenhäuser zu treiben: »Vielleicht findste deine Mutter, Hurenkind!« Lucia fiel dabei oft hin und machte ihre Kleider schmutzig. Und dann schämte sie sich, wenn sie zurück zu den Speyers kam.
Als Lucia älter wurde und die Zusammenhänge erkannte, lieh sie sich zum Kirchgang die Kittel der Küferkinder, um weniger aufzufallen. Das edle Tuch, in das der reiche Kaufmann von Speyer selbst seine Pflegetochter hüllte, erregte bloß Neid. Allerdings verschwanden Lucias eigene Sachen dann oft wie durch Zauberhand während des Kirchgangs. Die Küferin wollte nichts davon gewusst haben, und Grietgen schon gar nicht. Lucia schlich sich dann schuldbewusst und in Lumpen zurück in die Schulstraße, wo Al Shifa sie schimpfend von Flöhen und Läusen befreite. Wenigstens dauerte die Qual nicht mehr tagelang. Inzwischen war das Mädchen alt genug, um nach der Kirche allein in die Schulstraße zu laufen, sobald man die Kinder sich selbst überließ.
Lea und Lucia waren inzwischen zu hübschen kleinen Mädchen herangewachsen. Beide waren blond, wobei Lucias Haar mehr ins Honigfarbene spielte, während Leas wie goldenes Haferstroh glänzte. Auch die blauen Augen waren beiden Mädchen geblieben - ein wenig bedauert von Sarah, die selbst braune Augen hatte. Das Blau bildete einen reizvollen Kontrast zu dem blonden Haar der Mädchen. Bei Lea hatte sich die hellblaue Farbe ihres Vaters durchgesetzt, während Lucias Augen dunkler waren: Wenn Rachel sie sah, fühlte sie sich auf beinahe unheimliche Weise an den Blick der sterbenden jungen Frau erinnert, die sie vor nunmehr sechs Jahren von diesem Kind entbunden hatte. Auch in Lucias Augen konnten helle Blitze aufleuchten, wenn sie sich freute oder über etwas erregte.
Doch auf den ersten Blick waren diese Unterschiede zwischen Lea und Lucia kaum zu bemerken. Nach wie vor wurde Sarah oft gefragt, ob Gott sie mit Zwillingsmädchen gesegnet habe. Sarah lachte darüber, Al Shifa jedoch schien es nicht gern zu hören. Sie nannte Lucia oft »mein Mädchen« oder gar »Tochter«, wenn sie unter sich waren und die Maurin in ihrer seltsam singenden Sprache mit der Kleinen tändelte. Besonders die Morgenstunden, in denen Lea und Sarah noch schliefen, gehörten ihnen allein. Lucia lernte dabei ganz
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