Die Pestärztin
aber diesmal bekam das Mädchen auch einen ersten Eindruck davon, wie gefährlich die Sache werden konnte. Der Pfarrer von St. Quintin bestellte sie am Freitag nach der Vesper ein, um ihm Rede und Antwort zu stehen. Eberhard überbrachte die Nachricht feixend am Hintereingang des Hauses Speyer. Er erhoffte sich wohl eine Belohnung, aber die Köchin warf ihn hinaus.
Al Shifa war äußerst besorgt, als die Vorladung sie erreichte.
»Sei vorsichtig, was du sagst, Tochter!«, wies sie Lucia an. »Am besten erzählst du so wenig wie möglich - diese Pfaffen drehen dir das Wort im Munde um!« Al Shifas Stimme klang bitter, als habe sie Erfahrung mit solchen Verhören. »Hast du wirklich keine Vorstellung davon, worum es geht?«
Lucia, die sich schon den ganzen Tag müde und schwindelig fühlte, schüttelte den Kopf. Sie dachte gar nicht an die dummen Sprüche der Küferkinder - die musste sie sich schließlich schon ihr Leben lang anhören. Umso überraschender kamen die Vorwürfe des Priesters.
»Ein Mägdelein, dazu noch ein so junges, das mit einem Juden herumzieht!«, mahnte er sie gleich, nachdem er sie - offensichtlich zum ersten Mal - gründlich gemustert hatte. Ihr offener Blick und ihre ordentliche Kleidung schienen sie ihm nicht sympathischer zu machen. »Sag mir, Tochter, was ist wahr an den Geschichten, die man über dich erzählt? Liegst du dem Jungen bei? Verführt er dich zu unzüchtigen Gedanken und Handlungen?«
Lucia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Unzüchtige Gedanken und Handlungen wurden im Hause der Speyers nie erwähnt; sie wusste nur ungefähr, was überhaupt darunter verstanden wurde. Natürlich sprach man mitunter schon von einer Verheiratung Leas, aber vor dem sechzehnten Lebensjahr wurden die jüdischen Mädchen der Gemeinde selten vermählt. Was mit Lucia selbst geschehen sollte, war überhaupt noch nicht erörtert worden, und das Mädchen dachte auch nicht darüber nach. Bislang blutete sie nicht einmal in jedem Monat wie Lea. Bei der hatte die Menstruation vor zwei Monaten eingesetzt, worum Lucia sie glühend beneidete.
Schließlich half sich das Mädchen mit einem Gemeinplatz.
»Ich bin Christin, Herr. Und ein Jude darf keine Christin zur Frau nehmen. Seine Familie stößt ihn sonst aus, wisst Ihr. David würde nie ...«
»Mit den Bräuchen der Hebräer scheinst du ja gut vertraut zu sein!«, meinte der Pfarrer, ein rotgesichtiger kleiner Mann, dessen Kutte zu eng um seine rundlichen Körperformen saß. Wie die meisten seiner Gemeindemitglieder schien er nicht reich zu sein, und er betrachtete Lucias Kleid aus feinem Tuch und den Spitzeneinsatz am Ausschnitt voller Argwohn. Andererseits schien er Gefallen an ihrem zarten weißen Gesicht und dem züchtig zu Zöpfen geflochtenen honigfarbenen Haar zu finden. »Und du gehst in ihren Häusern ein und aus! Weißt du, dass dies in anderen Christenlanden verboten ist? Der Erzbischof von Mainz ist sehr gütig zu seinen Juden, manchmal vielleicht schon zu nachlässig ...«
Lucia wusste wieder nicht, was sie antworten sollte. Tatsächlich wusste sie von solchen Verboten, was Kontakte zwischen Juden und Christen betraf. In Kastilien zum Beispiel waren die Bräuche sehr streng; ein Freund der von Speyers, der dort oft geschäftlich zu tun hatte, berichtete immer wieder davon. Aber davon erzählte Lucia dem Priester besser nichts.
»Im Haus der von Speyers gibt es Juden, Christen und ...« Lucia stockte. Auf keinen Fall durfte sie dem Mann auch noch von ihren Beziehungen zu einer Muselmanin erzählen! »Juden und Christen«, verbesserte sie sich rasch. »Ich gehe mit meiner Ziehschwester Grietgen hin, die dort als Magd arbeitet. Die Speyers sind sehr gütig zu mir; das betrachten sie als ...« Beinahe hätte sie »Christenpflicht« gesagt! Damit pflegte die Küferin zu erklären, warum sie das Findelkind Lucia aufgenommen hatte. Aber bezogen auf Benjamin von Speyer wäre es wohl anstößig gewesen. »Als Gott wohlgefällig, ein Waisenkind zu nähren und zu kleiden.«
Sie senkte schüchtern die Augen. »Waisenkind« oder »Findelkind«? Hoffentlich hatte der Priester nicht »Hurenkind« hören wollen ...
»Und es womöglich zum Abfall von seinem Gott zu bewegen!«, erregte sich der Pfarrer. Lucias Herkunft war ihm offensichtlich egal. »Also gut, Lucia. Zweifellos wäre es das Beste, dir den Aufenthalt bei den Hebräern zu untersagen. Aber die Küferin hat vierzehn Bälger zu ernähren, da ist es ihr recht, wenn die Juden eins
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