Die Pestärztin
allen voran die Stadtbüttel. Glaubst du, da berührt einer die Herrin des Pesthauses?«
Lucias und Clemens' Pesthaus war längst in ganz Mainz bekannt. Dabei war sein Ruf durchwachsen. Ein Teil der Bürger schwärmte von den Heilungen, die hier mitunter erfolgten - andere befürchteten die Einwirkung des Teufels, und die Totengräber munkelten, dass hier immer wieder Menschen ohne Letzte Ölung auf die letzte Reise gingen. Letzteres war nicht Lucias und Clemens' Schuld, sondern die der Priester, die jedes Pesthaus mieden wie der Teufel das Weihwasser. Doch in den Hospizen der Mönche und Nonnen konnte es natürlich nicht passieren.
Clemens ließ Lucias Hand los und streichelte ihr zärtlich die Wange. Eine Haarsträhne hatte sich unter der Haube gelöst, und er strich sie zurück.
»Ich würde dich gern berühren«, sagte er heiser.
Lucia bot ihm den Mund zum Kuss.
Die nächste Bittprozession fand bereits zwei Tage später statt, und Lucia bestand darauf, sich ihr anzuschließen. Dabei war sie längst mit Clemens übereingekommen, dass die Teilnahme an den religiösen Übungen nicht vor Ansteckung schützte. Im Gegenteil, an den Tagen nach den Umzügen häuften sich die neuen Pestfälle. Lucia schützte sich durch Clemens' Wachsmantel, der ihr auch gegen den beständigen Regen half. Außerdem verschleierte sie sich.
Die Prozessionen liefen nun nicht mehr so geordnet ab wie in den ersten Wochen der Pest. Zwar gingen immer noch Priester mit Kerzen und Fahnen voraus, doch innerhalb des Zuges gab es Selbstgeißelungen, und die Menschen intonierten die Gesänge der Flagellanten:
»Nun hebet eure Hände, dass Gott dies große Sterben wende! Nun hebet eure Arme, dass Gott sich über uns
erbarme! Jesus, durch deine Namen drei, mach, Herre, uns von Sünden frei! Jesus, durch deine Wunden rot, behüt
uns vor dem jähen Tod!«
Nach Betreten des Judenviertels häuften sich auch Sprechchöre gegen die Hebräer:
»Brunnenvergifter, kommt aus euren Höhlen!
Stellt euch eurer Strafe, ergebt euch der Sühne!«
Verständlicherweise ließ sich kein Jude auf der Straße sehen. Lucia glaubte fest an ihren Plan. Vielleicht hatte sich ja auch die jüdische Köchin nach oben in Sarah Speyers Räume verzogen.
Trotzdem klopfte ihr Herz heftig, als sie sich durch den Torbogen schlich, während die Prozession singend und lärmend das große Haus in der Schulstraße passierte.
Niemand war im Hof, aber die Küchentür war natürlich verschlossen.
Lucia schlich sich zum Pferdestall. Es gab hier eine Verbindungspforte zu den Wirtschaftsräumen, die den Hausmädchen auch den Weg auf den Abtritt im Hof erlaubte, ohne sich bei schlechtem Wetter nass regnen zu lassen. Außenstehende kannten diese Pforte nicht; sie wurde praktisch nur vom Küchenpersonal benutzt. Wenn der Stall allerdings auch verschlossen war ...
Lucia beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Benjamin Speyer den Pferdestall fast nie verschloss. Er hatte auf einer seiner Reisen ein Pogrom erlebt, in dessen Verlauf ein Haus angesteckt worden war. Seine Gastgeber und er hatten fliehen können, doch der Stall war verschlossen gewesen. Die darin untergestellten Maultiere waren jämmerlich verbrannt. Speyers Tieren sollte ein solches Schicksal nicht widerfahren. Auch deshalb gab es die Pforte zwischen Stall und Haus. Bevor die Menschen flohen, sollten die Tiere losgebunden werden. Wenn sie dann aus dem Stall stürmten, würde das die Angreifer obendrein ablenken.
Lucia schlüpfte in den Stall. Eines der Pferde wieherte. Das Mädchen flüsterte dem Tier ein paar beruhigende Worte zu und lief dann zur Verbindungstür. Sie war offen! Lucia drückte sich hindurch und musste sich nun ruhig verhalten. Sie hatte oft selbst in der Küche gesessen und die Schritte der Stallknechte gehört, wenn diese zum Essen hereinkamen. Andererseits herrschte draußen immer noch infernalischer Lärm. Lucia durchquerte einen Lagerraum und eine Abstellkammer und öffnete dann die Tür zum Korridor. Wieder hatte sie Glück - die Küche war geschlossen. Sie konnte ungesehen über den Flur und die Treppe hinauf laufen.
Im zweiten Stock ging ihre Rechnung jedoch nicht auf. Er war keineswegs verlassen, wie sie angenommen hatte. Stattdessen vernahm sie Stimmen aus dem Empfangsraum, der hier für Geschäftsfreunde und Besucher des Herrn von Speyer eingerichtet war.
»Da seht Ihr es! Und das erleben wir zwei-, dreimal die Woche! Es ist nicht die Frage, ob es zu Ausschreitungen kommt, Reb
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