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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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noch keine Frau, Meister Clemens?«, zog sie ihn auf. »Fürchtet Ihr Euch vor Evas Stärke?«
    »Welche Frau will schon einen Pestarzt zum Mann?«, erwiderte Clemens. Es sollte launig klingen, doch ein Hauch von Schmerz schwang in seiner Stimme mit. »Oder einen Hinkefuß? Im Westfälischen, wo ich geboren wurde, munkelte man, meine Familie sei verflucht. Alle fünf Kinder erkrankten im gleichen Jahr. Eine seltsame Krankheit - erst befiel uns ein Fieber, dann schmerzte und versteifte sich der ganze Körper, bis das Kind nicht mehr atmen konnte. Mein Bruder und ich überlebten. Doch bei ihm blieben beide Beine steif, und er starb im Jahr darauf. Bei mir war es nur ein Bein. Meine Mutter tat alles, mich zu unterstützen. Sie gab mir zwei Stöcke und ließ nicht locker, wenn ich vor Schmerzen weinte, als ich wieder laufen lernte. Schließlich erholte ich mich. Für die Priester war das Teufelswerk. Wären wir eine Bürgerfamilie gewesen oder gar arm, hätte man meine Mutter und mich womöglich als Hexer verbrannt. Aber wir gehörten dem niederen Adel an; meine Mutter war entfernt verwandt mit den Fürsten zur Lippe. So wagte niemand, uns anzurühren. Und ich fühlte mich auch nicht verflucht. Ich wollte wissen, warum ich krank geworden war. So wurde ich Medikus, gegen den Willen meiner Eltern. Sie hatten zwar nach mir noch einen Sohn, aber ich war der älteste, und wenn ich schon nicht zum Ritter taugte, so wollten sie mich eher ins Kloster schicken als an eine Universität. Aber ich setzte mich durch, ging nach Salerno ... und weiß immer noch nichts! Nur, dass ich es jetzt mit gelehrteren Worten ausdrücken kann.«
    Lucia lachte und rückte ein wenig näher an ihn heran, nachdem sie weitere Kräuter ins Feuer geworfen hatte. Sie störte sich nicht an seinem Hinken. Im Gegenteil, sie mochte es, dass er sich trotzdem so aufrecht trug wie ein Ritter und allem Spott trotzte.
    »Ich habe noch mal über den Kanon der Medizin nachgedacht«, sagte sie dann und holte tief Luft. »Ich glaube, ich werde ihn stehlen.«
    »Du wirst was?« Wenn Clemens erregt war, neigte er dazu, Lucia zu duzen. »Du kannst doch nicht ...«
    »Und ob! Ich mach's während der nächsten Bittprozession!« Lucia hatte sich bereits alles zurechtgelegt und schilderte ihren Plan jetzt mit funkelnden Augen. »Die Prozessionen führen durchs Judenviertel. Und die Juden wagen sich derweil nicht aus ihren Häusern.«
    »Umso schlimmer«, bemerkte Clemens. »Sie sitzen auf ihren Schätzen!« Der junge Arzt schüttelte den Kopf.
    »Sie sitzen im dritten Stockwerk«, erklärte Lucia. »Und Herr von Speyer ist wahrscheinlich sowieso in seinen Speicherräumen am Rhein. Er hat kein richtiges Kontor im Haus, und er wird es sich längst abgewöhnt haben, wegen jeder Prozession daheimzubleiben und das Händchen seiner Frau zu halten. Das Bücherkabinett ist im zweiten Stock, Frau Sarah betritt es kaum. Ich kann hineinschlüpfen und den Kodex holen. Nur der Weg an der Küche vorbei ist brenzlig. Wenn das Tor zum Korridor und Treppenhaus aufsteht, könnte die Köchin mich sehen.« Lucia schaute Clemens beifallheischend an.
    »Ist die Köchin nicht deine Al Shifa?«, fragte er. »Vielleicht würde sie dir ja helfen? Kannst du sie nicht auf dem Markt fragen, ob sie dir den Kodex hinausschmuggelt?«
    Lucia runzelte die Stirn. »Wo findet hier noch ein nennenswerter Markt statt?«, erkundigte sie sich. »Im Judenviertel vielleicht, aber da traue ich mich nicht hin. Man würde mich erkennen und Sarah davon berichten. Und Al Shifa würde mir auch nicht helfen. Sie ist den Speyers treu ergeben. Und sie ist keine Diebin!«
    »Was würden sie denn mit dir machen, wenn sie dich erwischen?«, fragte Clemens heiser. »Versteh mich richtig, Lucia, ich will diesen Kodex. Aber wichtiger bist du ...«
    Lucia blickte ihn erstaunt an; dann sah sie die Liebe in seinen Augen. Was sie bislang für Duldsamkeit und Freundlichkeit gehalten hatte - dieses warme, verständnisvolle Leuchten -, war aufrichtige Liebe. Wie hatte sie es bis jetzt übersehen können?
    Clemens tastete unsicher nach ihren Händen. »Wenn ich dich verlieren würde ...«
    Lucia nahm seine langen, schlanken Finger zwischen ihre.
    »Du verlierst mich nicht«, sagte sie leise. »Ich werde vorsichtig sein. Und was können sie mir schon tun? Wenn sie mich melden, muss ich vielleicht eine Buße entrichten, weil ich in ein Judenhaus eingedrungen bin. Aber mehr dürfte kaum passieren. Außerdem sind die Leute abergläubisch,

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