Die Pestärztin
Abraham, sondern wann!«
Die Stimme Benjamin von Speyers. Und Reb Abraham ben Israel. Der »Judenbischof«.
»Ihr habt recht, Herr von Speyer. Ich bin entsetzt. So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt.« Der Gemeindevorsteher wirkte beinahe verlegen.
»Weil Ihr diese Prozessionen allenfalls vom Domplatz aus verfolgt. Da, wo der Bischof noch die Hand darauf hält! Versteht mich richtig, ich weiß Eure Arbeit zu schätzen. Und auch der Bischof ist ein ehrenwerter Mann. Aber das hier kocht irgendwann über! Kann man nicht dahingehend auf den Bischof einwirken, dass diese Fanatiker wenigstens das Judenviertel aussparen?« Von Speyer schien ernstlich besorgt.
»Ich kann es versuchen«, meinte Reb Abraham schulterzuckend. »Aber ich glaube nicht, dass er viel Einfluss hat. Die Prozessionen werden eher von den Pfarreien organisiert, und den Pfaffen gefällt es, uns zu provozieren. Ich denke, unsere augenblickliche Strategie, sich ruhig zu verhalten, ist die beste.«
»Da habe ich meine Zweifel, Reb Abraham!«, entgegnete Benjamin mit strenger Stimme. Lucia fuhr zusammen. Sie sollte nicht hier sein und lauschen. Sie sollte sich an diesem Raum vorbeischleichen, so schnell sie konnte in die Bibliothek huschen, ihren Kodex holen und verschwinden. Aber sie war wie gelähmt. Zu genau stand ihr vor Augen, wie es die letzten Male gewesen war, als sie diese befehlsgewohnte Stimme gehört hatte.
»Wenn Ihr mich fragt«, fuhr Benjamin fort, »wäre es Zeit, eine Warnung an die Gemeinde auszusprechen. Wer Mainz verlassen kann, sollte gehen!«
»Gehen?«, fragte Reb Abraham gedehnt. »Aber wohin? Wir leben doch hier seit Menschengedenken ...«
»Und das hat den Mob nicht gehindert, die Gemeinde vor zweihundert Jahren fast auszulöschen. Wenn das losbricht, schützt uns keiner mehr. Ich werde in den Süden gehen! Wir haben Verwandte in Landshut. Und der Süden blieb bislang von der Pest verschont - der Ewige wird wissen, warum.«
»Ihr wollt also abreisen, Reb Speyer? Meint Ihr, das sei das richtige Zeichen?« Der Judenbischof klang tadelnd.
»Das ist mir völlig gleich, Abraham! Ich will, dass meine Familie überlebt. Und ich sitze auf glühenden Kohlen! Aber meine Tochter ist schwanger und will die Niederkunft hier erleben. Lea wartet zudem auf ihren Gatten, der bald von einer Reise zurückkehren sollte. Vorher will sie nicht weg; sie befürchtet, er könnte sie nicht wiederfinden! Völliger Unsinn natürlich, aber Ihr wisst, wie Frauen sind. Doch sobald mein Schwiegersohn zurück ist - David, mein Sohn, ist ebenfalls auf der Heimreise -, sobald sie ankommen und das Kind geboren ist, verlassen wir Mainz.«
Lucias Starre löste sich allmählich. Sie musste handeln, sonst war der Kodex womöglich verpackt und nach Landshut gebracht, ehe sie ihn an sich bringen konnte. Sie rannte am Empfangsraum vorbei und stürmte in die Bibliothek. Der Kodex lag nicht an seinem Platz. Jemand musste umgeräumt haben.
Lucia ließ den Blick hektisch über die Bücherreihen wandern. Da, ganz oben, in einem der höchsten Regale! Niemals reichte sie dorthinauf. Lucia zog sich den hohen Stuhl heran. Doch auch, wenn sie ihn erkletterte, war es hoffnungslos ...
Der Tisch! Mühsam zog sie das schwere Eichenmöbel zum Regal. Es quietschte, als es über den Kachelboden rutschte. Wenn man das bloß nicht nebenan hörte!
Lucia hielt verängstigt inne, zwang sich dann aber, weiterzumachen. Die beiden Männer sprachen mit erhobenen Stimmen, und draußen tobte der Mob. Das scharrende Geräusch aus der Bibliothek würde niemand vernehmen. Und es war gleich geschafft. Wenn sie sich ein bisschen streckte ...
Doch auch vom Tisch aus erreichte Lucia die oberste Regalreihe nicht. Außer Atem wuchtete sie den Stuhl auf den Tisch und kletterte hinauf. Die Höhe war schwindelerregend, aber die Handschrift war nun leicht greifbar. Aufatmend zog Lucia den Kodex an sich. Jetzt nur noch herunter und hinaus aus der Bibliothek!
Das Beste wäre natürlich, alles wieder an seinen Platz zu stellen. Dann würde niemand den Kodex vermissen ... monatelang, vielleicht Jahre nicht. Und schließlich würde man denken, er sei beim Umzug verloren gegangen. Aber Lucia fehlte die Zeit und die Kraft. Sie würde alles stehen lassen. Nur herunter, nur ...
In ihrem Eifer, wieder festen Boden zu erreichen, stützte sie sich am Stuhl ab und brachte ihn dabei zu Fall. Mit schrecklichem Getöse polterte der Stuhl vom Tisch zu Boden, wobei er das Lesepult streifte und ebenfalls zu
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