Die Pestärztin
Fall brachte.
Das konnten die Männer im Nebenzimmer unmöglich überhört haben.
Lucia drückte den Kodex an sich und wandte sich panisch zur Tür. Wenn sie nur noch den Korridor erreichte, ehe Speyer reagierte! Dann hatte sie wenigstens die Chance, an den überraschten Männern vorbei zu flüchten.
Aber bevor Lucia die Tür aufstoßen konnte, wurde diese bereits von außen geöffnet. Lucia erwartete, Benjamin von Speyer zu sehen. Doch vor ihr stand Al Shifa!
Die Maurin erfasste die Situation mit einem Blick. Das Mädchen, der Kodex - und das Chaos im Bücherkabinett. Lucia sah sie verzweifelt an. Hinter sich hörte sie Stimmen.
»Was ist da los? Al Shifa? Brichst du das Haus ab, oder was?«
Lucia hielt den Atem an. Al Shifa musste sich jetzt entscheiden.
Die Maurin wandte sich um.
»Mir ist ein Stuhl umgefallen, Herr, auf den ich steigen wollte, um die Handschrift des Ibn Sina aus dem Regal zu holen. Ich bringe es gleich in Ordnung, beunruhigt Euch nicht.«
Lucia, die sich in eine Ecke des Raums geflüchtet hatte, sah aus dem Augenwinkel, wie die Maurin sich zum Korridor hin verbeugte. Sie verdeckte dabei die Tür.
»Aber ich sollte Euch wohl erst eine Erfrischung bringen, Herr. Bei dem Tumult da draußen verlangt es Euch vielleicht nach einem guten Wein von einem Eurer Güter!«
Lucia bewunderte wieder einmal das diplomatische Geschick der Maurin. Der Judenbischof war als Weinkenner bekannt. Und die Weingüter der Speyers vor Mainz gehörten zu den besten. Benjamin konnte seinem Besucher kaum die Freude verwehren, die neuesten Erzeugnisse zu probieren. Auch wenn er selbst vielleicht lieber sein geliebtes Bücherkabinett inspiziert hätte.
Auf ein Zeichen von Al Shifa verkroch Lucia sich tiefer in ihre Ecke, während die Maurin die Männer zurück in den Empfangsraum geleitete. Das Mädchen wusste nicht, ob Al Shifa den Wein schon bei sich gehabt hatte oder wie sie die beiden Männer ruhig stellte, während sie ihn holte. Die nächsten Augenblicke jedenfalls gehörten zu den längsten in Lucias Lebens.
Dann kehrte Al Shifa zurück. Sie war wohl tatsächlich heraufgekommen, um den Männern den Wein zu kredenzen. In so kurzer Zeit hätte sie es kaum in die Küche und wieder herauf geschafft. Lucia atmete auf. Man hatte sie nicht erwischt. Aber bestimmt würde Al Shifa darauf bestehen, dass sie den Kodex zurückgab. Lucia wappnete sich gegen tadelnde Worte. Diese blieben jedoch aus.
»Sei gegrüßt, Tochter«, sagte Al Shifa stattdessen leise. Lucia wollte sie umarmen, doch die Maurin wehrte ab. »Ich habe mich schon lange gefragt, wann du kommst. Meine Lucia, die Pestärztin von Mainz.«
»Pestärztin?«, fragte Lucia.
Al Shifa nickte. »So nennen sie dich. Und so erfüllst du mich bis zuletzt mit Stolz.«
»Aber ich bin doch hier, um zu stehlen! Ich dachte ...« Lucia verstand die Welt nicht mehr.
»Du bist hier, um dein Erbe zu holen. Es tut mir leid, dass es so schwer war. Wer hat den Kodex nur dort oben hingelegt? Aber wenn der Diebstahl dein Gewissen belastet - du kannst dich beruhigen, ich hätte dir das Buch heute ohnehin gebracht.«
»Aber du hast mir gesagt, es gehöre den Speyers, weil du den Speyers gehörst ...« Lucia wusste, dass sie nicht reden, sondern fliehen sollte, aber sie musste das alles erst begreifen.
»Ich gehöre den Speyers nicht mehr«, sagte die Maurin würdevoll. »Ich gehöre nur noch Allah.«
Damit hob sie den rechten Arm und ließ ihren weiten Ärmel über die Schulter gleiten. Entsetzt erkannte Lucia die Beulen der Pest.
»Al Shifa, Mutter ... du musst zu uns kommen, vielleicht können wir helfen. Clemens und ich werden alles tun!«
Die Maurin lächelte. »Clemens und du! Du bist also über den kleinen David hinweg. Besser so! Und vielleicht ist dieser Clemens ja deiner würdig. So Allah will, werde ich ihn heute Nacht sehen. Ich verlasse dieses Haus, wenn die ersten Sterne am Himmel erscheinen. Und nun komm, ich geleite dich sicher hinaus.«
Al Shifa hustete, als sie Lucia über die Treppe hinausführte. Das Mädchen sah jetzt auch den fiebrigen Glanz in den Augen der Maurin.
»Du bist sicher, dass du es schaffst? Warum kommst du nicht gleich mit?« Lucia sah sie besorgt an.
»Ich werde das Bücherkabinett in Ordnung bringen. Ich will nicht, dass man meiner als Diebin gedenkt. Und ich werde den Speyers bis zu meinem letzten Tag dienen, wie ich es versprochen habe.«
Al Shifas Hand fuhr leicht wie ein Windhauch über Lucias Wange.
»Und nun geh, mein Kind.
Weitere Kostenlose Bücher