Die Pestärztin
verzweifelt. »Ich will bei dir sein! Ich kann dich nicht einfach verlassen, kann dich nicht allein sterben lassen!«
Sie kämpfte mit den Tränen.
Clemens klammerte sich an den Fensterrahmen. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich aufrecht zu halten. »Doch, das kannst du, Liebste. Du musst. Ich kann das alles ertragen, aber wenn dir auch etwas passiert ... Herrgott, Lucia, hier wütet nicht nur die Pest! Vor der Tür stehen die Stadtbüttel. Ob gesund oder krank, du würdest hier nie lebend herauskommen.«
Lucia wusste, dass er recht hatte. Sie konnte vielleicht über die Leiter einsteigen, aber die Stadtbüttel würden das Haus überprüfen und sie spätestens dann entdecken, wenn die Totengräber es räumten. Und auch der Fluchtweg über die Leiter würde womöglich versperrt sein. Wenn sie erst in dem Pesthaus gewesen war, half Lea ihr sicher nicht mehr heraus. Die junge Jüdin liebte sie, aber sie war ihr nicht wichtiger als ihre Familie und ihr Kind.
Clemens hielt sich mit letzter Kraft am Fenster fest.
»Aber das Haschisch ... «, sagte er mühsam. »Das Haschisch gewinnt man ... aus dem Harz der Blütenstände der ... der weiblichen Hanfpflanze, was immer das heißt ... Man entnimmt es und presst es. Du musst es versuchen. Versprich mir, dass du es versuchst, Lucia ...«
Lucia wollte zu ihm hinaufklettern, doch er machte eine abwehrende Handbewegung. Sie hätte ihn ohnehin nicht erreicht. Clemens war im dritten Stock des Hauses. Die Leiter reichte nur bis zum zweiten.
»Versprich mir, Lucia ...«
»Ich verspreche dir alles, Clemens, Liebster.« Lucia war nie etwas so gleichgültig gewesen wie jetzt dieser Hanf, für den Clemens sein Leben opferte. »Ich liebe dich!«
»Ich liebe dich auch, Lucia, mein Licht ...« Clemens sah sie an, als wollte er ihr Bild auf ewig in sich einbrennen. Lucia würde diesen Blick niemals vergessen. Seine sanften braunen Augen, die blassen Lippen, die sie nie mehr küssen würde.
»Clemens ...«
»Geh, Liebste, geh.« Clemens' Hände lösten sich vom Rahmen des Fensters, die Kräfte verließen ihn. Es wäre aussichtslos gewesen, ihm die Leiter herunterzuhelfen - ganz abgesehen vom Fußweg durch die halbe Stadt, der die Schulstraße von der Augustinergasse trennte.
»Da hörst du's. Verschwinde!«, rief die Frau von eben zu ihr hinunter. »Vergiss ihn. Vergiss uns!«
Lucia stieg wie benommen die Leiter hinunter. Sie taumelte, als sie den Hof überquerte. Im Vorderhaus wartete Lea. Bei aller Sorge hatte sie es doch vor Neugier nicht ausgehalten.
»Es ist nicht gelungen?«, fragte sie enttäuscht und nach einem Blick in Lucias kalkweißes Gesicht.
»Er wird nicht kommen. Er ist krank«, sagte sie tonlos. »Er hat die Pest. Ich soll ihn vergessen. Vergiss du mich auch, Lea, ich bringe nur Unglück ...«
Damit lief sie auf die Straße. Zurück zu ihrem Pesthaus. Vielleicht gelang es ihr ja doch noch, sich anzustecken. Vielleicht fand sie Clemens dann irgendwo wieder ... in irgendeinem Winkel des Paradieses, an das sie nicht mehr glaubte.
Lucia wusste nicht, wie sie es schaffte, in den nächsten Tagen ihre Arbeit zu verrichten. Doch irgendwie gelang es ihrem Körper, Packungen aufzulegen, Strohsäcke zu erneuern und die Kranken zu waschen und zu füttern, während ihre Gedanken nur um jenes Pesthaus im Judenviertel kreisten. Katrina und Bruder Caspar ließen sie dabei nicht aus den Augen. Ihre Wachsamkeit vereitelte jeden Versuch Lucias, sich aus dem Haus zu schleichen und ins Judenviertel zu laufen, um Clemens wenigstens nahe zu sein.
»Denk gar nicht erst daran!«, sagte Katrina ernst. »Du bringst dich nur in Gefahr und womöglich uns alle in Schwierigkeiten.«
Letzteres war nur allzu wahrscheinlich, denn seit Clemens' Verschwinden war das Hospiz in der Augustinergasse nicht mehr so unantastbar, wie es vorher schien. Bislang hatte die Geistlichkeit sich zurückgehalten. Einen Pestarzt, der sein eigenes Hospiz führen wollte, konnte man akzeptieren. Und wenn er mehr Heilungen aufzuweisen hatte als die Pesthäuser der Orden, wurde darüber zwar getuschelt, aber man führte es letztlich doch eher auf sein Studium der Medizin zurück, denn auf Zusammenarbeit mit finsteren Mächten. Doch ein Pesthaus unter der Leitung einer Magd aus Mainz - und wenn das Volk sie zehnmal die »Pestärztin« nannte - war unannehmbar. Wenn hier Heilungen stattfanden, musste der Teufel seine Hand im Spiel haben! Bruder Caspar konnte seine Ordensbrüder bislang noch beruhigen, doch auf
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