Die Pestärztin
Dauer würde der Erzbischof gewiss eine Prüfung der Vorkommnisse anordnen.
Vorerst hatten die Franziskaner allerdings mit ihren eigenen Pesthäusern genug zu tun, und insgesamt fehlte es der Geistlichkeit von Mainz an Priestern, die Untersuchungen vornehmen konnten. Zwar kamen nach wie vor opferwillige junge Seminaristen und Ordensleute in die Stadt, um die Pestkranken zu betreuen, doch sie starben ebenso schnell wieder weg.
In den Tagen nach Clemens' Erkrankung wütete die Seuche vor allem im Umkreis der Schulstraße, bis hin zur Quintinskirche. Das betraf hauptsächlich das Viertel »Unter den Juden«, wobei Juden und Christen gleichermaßen betroffen waren. Besonnene Menschen überzeugte dies von der Unschuld der Hebräer an der Plage; der Mob jedoch war weiterhin der Meinung, dass die Juden ihre Erkrankungen nur vortäuschten und nach wie vor Brunnen vergifteten. Diese Erklärung bekam gegen Ende August neue Nahrung. Entgegen den Wünschen des Bischofs öffneten die Mainzer einer Gruppe »Judenschläger« ihre Stadt - einer Bewegung von Fanatikern ähnlich den Flagellanten.
Bruder Caspar war ernstlich besorgt, als er im Anschluss an eine Besorgung ins Pesthaus zurückkehrte und auf dem Domplatz eine Rede der Aufrührer mitbekam.
»Es heißt, sie sterben an der Pest, so wie wir! Aber wissen wir das genau? Wir glauben, Leichen zu sehen, aber was ist, wenn die Kerle sich nur tot stellen? Bestattet man sie wie Christen in geweihter Erde? Natürlich nicht! Sie verscharren die ihren auf eigenen Friedhöfen! Und würde es uns wundern, zöge des Nachts ein stiller Zug wiedererweckter Juden zurück in ihre Häuser, drückten sich in dunkle Ecken, wenn Christenmenschen vorbeikämen, und brächten die schrecklichsten Gifte mit aus der Hölle, die sie dann in unser Wasser mischten? Nein, Bürger von Mainz, das würde uns nicht wundern! Im Gegenteil! Macht die Augen auf, Bürger von Mainz! Seht unser Verderben! Seht, wie Gott sich von uns abwendet, wie er keinen Finger rührt, uns zu schützen, solange wir diese Brut der Hebräer unter uns dulden! Jetzt ist keine Zeit, auf die Sanftmütigen zu hören! Jetzt heißt es Auge um Auge, Zahn um Zahn! Tod den Juden! Sühne für ihre Sünden!«
Die Judenschläger skandierten die letzten Sätze, und der Pöbel griff sie bereitwillig auf.
Bruder Castor dankte im Stillen dem Herrn, dass sich längst nicht so viele Mainzer wie zu normalen Zeiten auf dem Domplatz befanden. Im Grunde deckten sich nur wenige brave Bürgersfrauen rasch mit Marktwaren ein, wobei sie den Domplatz bevorzugten, weil sie sich im Schatten des Gotteshauses sicherer fühlten als auf anderen Märkten. Mit diesen Frauen ließ sich jedenfalls kein spontaner Aufruhr entfesseln. Gleich darauf erschienen auch die ersten Stadtbüttel und Priester im Auftrag des Bischofs, um die Judenschläger aus dem Umkreis des Doms zu vertreiben. Die Aufrührer predigten jedoch auch an anderen Orten und ließen vor allem die Schenken nicht aus.
»Wenn sie da an die richtigen Leute geraten«, meinte Caspar besorgt und blickte Lucia und Katrina eindringlich an. »Haltet euch um Himmels willen dem Judenviertel fern, Lucia!«
Der alte Krieger in Mönchskutte sah aus, als wäre er im Zweifelsfall bereit, Lucia einzusperren, um sie vor sich selbst zu bewahren.
10
L ucia versuchte, so wenig wie möglich an Clemens zu denken, und versenkte sich ganz in ihre Aufgaben. Sie begann sogar, Pestbeulen selbst zu öffnen und stellte sich dabei ziemlich geschickt an. Allerdings scheute sie sich, den Patienten zusätzlichen Schmerz zuzufügen, und versuchte es deshalb nur bei Kranken, die ohnehin schon das Bewusstsein verloren hatten. Die überlebten dann allerdings selten. Lucia wurde mehr und mehr von Hoffnungslosigkeit erfasst.
Aber dann, zu Beginn der letzten Augustwoche, erschien ein aufgeregter kleiner Junge vor dem Pesthaus in der Augustinergasse und verlangte, die Ärztin Lucia zu sprechen. Katrina bestellte es ihr, wenn auch zögernd.
Lucia jedoch beflügelte der Ruf.
»Clemens ... vielleicht bringt er Nachricht von Clemens!« Die junge Frau rannte die Stiegen hinunter. Dabei sagte ihr der Verstand, dass Clemens längst tot sein musste. In der Regel verstarb man nach drei Tagen an der Pest, und Lucias Versuch, den Geliebten zu befreien, war bereits mehr als eine Woche her. Ihr Herz jedoch konnte den Verlust nicht akzeptieren.
Ein wenig außer Atem stand sie schließlich vor dem Jungen, der seine Mütze nervös in den Händen
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