Die Pestärztin
an ihre Haustür klopfte. »Aber ich will mir nicht die Pest ins Haus holen.«
Lea war jetzt hoch in Umständen. Das Kind konnte jeden Tag kommen; es war verständlich, dass sie sich besonders ängstigte.
»Clemens steckt sich nicht an«, erklärte Lucia im Brustton der Überzeugung. »Und du brauchst ja auch gar nichts zu machen. Gib mir nur die Leiter heraus. Ich stelle sie selbst an, hole Clemens heraus, und dann verschwinden wir. Du kannst so lange in deinen Gemächern warten. Wenn du ganz sicher gehen willst, lässt du die Leiter morgen verbrennen. Da passiert nichts, Lea, hab keine Angst!«
Lea war nicht überzeugt. An sich war sie für jedes Abenteuer zu haben, doch in den letzten Monaten war sie vorsichtiger geworden, so wie alle Juden. Nach wie vor drängte Benjamin von Speyer zum Aufbruch. »Und wenn du das Kind auf der Straße bekommst!«, hatte er zu Lea gesagt. »Das ist immer noch sicherer als in Mainz. Wir können auch auf eins unserer Weingüter ziehen. Da kannst du das Kind zur Welt bringen, und Juda findet dich. Aber wir sollten raus aus diesen Mauern!«
Sarah dagegen wollte die Niederkunft ihrer Tochter unbedingt noch abwarten. Außerdem rechnete sie jetzt täglich mit der Ankunft von David, der in den Niederlanden geheiratet hatte und nun mit seiner Frau heimkehren wollte. Sie hätte ihn lieber in ihrem Haus empfangen als irgendwo auf der Flucht. Und Lea selbst war unschlüssig. Sie fürchtete sich vor einer Geburt auf der Straße, oder irgendwo unter den Händen einer bäuerlichen Hebamme. Nur wenn Lucia sich um sie kümmerte, würde sie sich halbwegs sicher fühlen.
Aber wenn ihr die Freundin in ihrer schwersten Stunde beistehen sollte, durfte sie Lucia jetzt auf keinen Fall verprellen ... Lea gab sich einen Ruck.
»Also schön, Lucia, aber ich will nichts damit zu tun haben. Die Leiter steht im Schuppen bei den Ställen. Nimm sie und tu, was du tun musst.«
Lea zog sich zurück, während Lucia ihr erleichtert dankte.
Gleich würde sie wieder mit Clemens vereint sein! Sie stellte die Leiter an die Rückwand des Arzthauses und nahm ein paar Steinchen, um sie gegen die Fenster zu werfen. Schließlich musste sie die Bewohner auf sich aufmerksam machen.
Lucia legte mit klopfendem Herzen die Leiter an. Sie war lang und stabil; es war nicht allzu gefährlich, sie zu ersteigen. Dennoch schauderte es ihr ein wenig vor der Höhe. Erst recht, als sie schließlich eine Hand von der Leiter nehmen musste, um ihre Steine gegen die Fenster zu werfen. Das Pergament davor war zum Glück straff gespannt; die Menschen im Haus würden es hören, wenn Steine dagegen pochten.
Doch zunächst geschah nichts. Erst nachdem Lucia zwei oder dreimal geworfen hatte, zeigte sich das Gesicht einer ausgemergelten Frau im Fenster.
»Wer ist da? Was wollt Ihr? Könnt Ihr nicht mit dem Plündern warten, bis alle tot sind?«, fragte sie unwillig.
Lucia sah das Fieber in ihren Augen. Die Frau war unverkennbar erkrankt.
»Ich will Euch nichts Böses«, beruhigte Lucia sie. »Ich bin Lucia, die Gattin des Pestarztes. Mein Mann ist bei Euch. Würdet Ihr ihn bitte holen?«
Die Frau zuckte die Schultern. »Muss sehen, ob er noch kriechen kann. Ich bin die Letzte hier, kleines Mädchen, die sich noch halbwegs auf den Beinen hält. Und wenn du klug bist, verziehst du dich rasch ...«
Damit wandte sie sich ab und ließ Lucia erzitternd zurück. Die Letzte? War Clemens gar nicht im Haus?
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als er im Fenster erschien. Sein Gesicht war blass, die Haut von dem fast grauen Farbton, der die Opfer der Pest im zweiten Stadium der Krankheit befiel. Zudem wirkte er hagerer als zwei Tage zuvor; seine Wangen waren eingefallen, und die Augen zeigten Fieberglanz.
»Sie hat recht, Lucia«, sagte Clemens mit schwacher Stimme. »Du solltest gehen. Allein das Risiko, dich hier im Judenviertel aufzuhalten ... Und ich hätte besser aufpassen müssen ... Vielleicht haben die Kräuter, hat die Schnabelmaske doch geholfen ... Oder es hat alles nur seine Zeit ...«
Lucia sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an und suchte fieberhaft nach einer Lösung.
»Clemens, kannst du gehen? Schaffst du es noch da heraus? Ich nehme dich mit nach Hause. Wenn ich dich pflege ... wir müssen dich nur die Leiter herunterbringen, dann ...«
Clemens schüttelte den Kopf. »Ich komme hier nicht mehr heraus«, sagte er leise. »Es geht jetzt sehr schnell, Lucia. Es ist hoffnungslos ...«
»Dann lass mich herein!«, rief sie
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