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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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bevorstehende Geburt zu konzentrieren. Sie machte einen Umweg und hoffte, über die schmalen Gassen schnell und unbehelligt zu ihrer Wöchnerin zu kommen.
    Allerdings musste sie bald feststellen, dass sie sich irrte: Anders als in den letzten Wochen, als die Straßen der Stadt eher ausgestorben gewirkt hatten, drängten sich die Menschen heute selbst in den kleinsten Gassen. Viele von ihnen schleppten Kreuze und Geißeln mit sich und sangen Kirchenlieder. Also wieder mal eine Prozession? Lucia wunderte sich. Im Allgemeinen hätten sie davon erfahren; die Aufrufe zu Bußprozessionen erreichten die Augustinergasse gewöhnlich sehr schnell.
    Doch heute waren nicht nur Heiligenfiguren und Kerzen zu sehen, sondern auch Fackeln - und Waffen! Dazu wirkten die Gesichter der Menschen aufgeregt und wie von einer Art Vorfreude erfüllt. Bei harmlosen Prozessionen zeigten sie diesen Ausdruck schon lange nicht mehr; die meisten Büßer hatten eher resigniert.
    Auch die Zielstrebigkeit des Mobs machte Lucia Sorgen. Hier liefen nicht ein paar Flagellanten von einer Kirche zur anderen, und niemand kehrte in die Schenken ein, die am Weg lagen. Stattdessen drängten die Menschen vorwärts und schienen den gleichen Weg zu haben wie Lucia! Der Mob strebte zum Judenviertel!
    Die junge Frau ließ den Mantel von ihrer Schulter gleiten. Es war besser, hier nicht als Jüdin aufzutreten. Im Grunde wäre es am besten gewesen, den Mantel des Pestarztes zu tragen.
    Aber die Gefahren, die sonst auf den Straßen lauerten, wenn ein hübsches Mädchen weitgehend unverschleiert und allein durch die Stadt lief, schienen heute außer Kraft gesetzt. Niemand sprach Lucia an und machte zotige Bemerkungen. Den Männern stand der Sinn ganz offensichtlich eher nach Aufruhr als nach Liebe. Unter den teils wütenden, teils sensationshungrigen Menschen fanden sich erstaunlich viele Weiber. Zu ihrem Entsetzen erkannte Lucia sogar Bürgersfrauen, gestandene Matronen, die jetzt Hetzlieder gegen die Juden skandierten!
    Lucia verließ schließlich die Seitengassen und nahm größere Straßen, um schneller vorwärtszukommen. Hier erwarteten sie jedoch weitere Schrecken, formierten sich inzwischen doch ganze Trupps bewaffneter Männer am Eingang zum Judenviertel. Lucia hörte jetzt auch Schwerterklirren. Offensichtlich wurde bei der Synagoge gekämpft.
    Lucias Besorgnis wich rasender Furcht und einem Anflug von Zorn auf ihre Freundin. Wie konnte Lea sie in so etwas hineinziehen? Hatte der kleine Bote gelogen, als er behauptete, im Judenviertel sei es bislang ruhig? Oder hatten ihn die Reden der Judenschläger und Flagellanten beim Pesthaus, der Mord und sicher auch die Folterung des geheilten Pestkranken so sehr fasziniert, dass er seinen Auftrag für Stunden vergessen hatte?
    Lucia trieb in der Menge weiter. Ihr Verstand riet ihr zur Umkehr, doch eine Flucht gegen den Strom wäre kaum möglich gewesen. Zudem drängte ihr Herz sie vorwärts. Sie wollte Lea beistehen, und sie musste erfahren, was vor sich ging!
    Inzwischen waren auch Schreie zu hören, und es roch nach Qualm.
    »Schickt die Juden zur Hölle!«, keifte eine Frau neben Lucia.
    »Verbrennt sie!«
    Die Gruppe von schreienden und singenden Bürgern, in der Lucia sich eingeschlossen fand, erreichte schließlich die ersten Judenhäuser. Lucia hoffte, dass die Männer und Frauen neben ihr keine Raufereien begannen, aber zumindest führten sie keine Waffen mit sich. Es waren wohl eher Mitläufer und Neugierige, auch wenn sie böse Lieder sangen und Schmähungen gegen die Hebräer skandierten. Lucia versuchte sich einzureden, dass der gesamte Marsch aufs Judenviertel sich auf solche Großmäuligkeit beschränken würde.
    Dann aber sah sie Blut auf der Straße und erkannte voller Entsetzen und Abscheu, dass der Mob bereits die ersten Häuser eingenommen hatte. Aus den Fenstern der Wohnungen beugten sich plündernde Christen und winkten den Bürgern auf der Straße triumphierend zu. Einige waren offenbar betrunken; anscheinend leerten sie gerade die Weinvorräte der früheren Bewohner.
    Lucia hoffte, dass die Leute rechtzeitig geflohen waren. Sie kannte das Haus, an dem sie soeben vorbeigezogen wurde. Es gehörte einer rechtschaffenen Kleinkrämerfamilie, deren Oberhaupt, Salomon Trierer, sicher keinen Kampf gesucht, sondern seine Leute in Sicherheit gebracht hatte. Dann aber sah sie die Toten. Salomon Trierer war vor dem Haus von einem Schwertstreich niedergestreckt worden. Auf den Körper seines Sohnes Israel

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