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Die Pestglocke

Die Pestglocke

Titel: Die Pestglocke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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atemberaubend, von keinerlei Patina gedämpft. Das kräftige, glänzende Rot ihres Umhangs wirkte wie frisch aufgetragener Nagellack, der sich womöglich noch feucht anfühlte; der Kontrast von Licht und Schatten in den Falten des vergoldeten Gewands ließ dieses aussehen, als wäre es aus einem geheimnisvollen metallischen Gewebe gefertigt. Ich begann, einige Details zu bemerken: eine Reihe kleiner Knöpfe auf der Unterseite ihrer Ärmel; rote Rosetten mit schwarzer Umrandung, die ihren Gürtel zierten. Es gab so viel zu betrachten, aber ich würde es auf ein andermal verschieben müssen.
    »Und dir ist sie also zu grell, Brian?«, sagte ich und stieg zu den beiden hinunter.
    »Ich hab's lieber schlicht. Wenn das Material, aus dem eine Skulptur ist, für sich selbst spricht.«
    »Und das ist deine persönliche Meinung?«
    »Sicher.«
    »Du bist hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich dir sage, dass es die gängige Ansicht über Bildhauerei in den letzten Jahrhunderten ist.«
    Er zuckte mit den Achseln. »Das spielt keine Rolle. Ich weiß trotzdem, was mir gefällt.«
    »Magst du Schwarz-Weiß-Filme lieber als Farbfilme?«
    »Äh … nein, aber ich verstehe den Zusammenhang nicht.«
    »Na ja, vielleicht ist es nicht der beste Vergleich, aber stell dir vor, Filme wie Vom Winde verweht oder Findet Nemo kämen aus dem einzigen Grund außer Mode, weil sie in Farbe sind. Das wäre ziemlich absurd, oder? Schließlich beruht die Anziehungskraft solcher Filme zum großen Teil darauf, wie sie aussehen, wie die Farbe eingesetzt wird, um bestimmte Wirkungen zu erzielen.« Ich nickte in Richtung der Statue. »Bunt bemalte Skulpturen waren die Technicolor-Kunst ihrer Zeit. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
    »Irgendwie schon. Aber was soll so toll daran sein, eine Statue anzumalen?«
    »Aha. Nach deinen Begriffen hat die Statue immer noch eine Existenz, die vor der Bemalung liegt, als würde man ihr damit nur das nackte Aussehen nehmen. Aber so sahen es die Kunsthandwerker der damaligen Zeit ganz und gar nicht.«
    Brian zuckte die Schultern. Er war noch immer nicht sehr beeindruckt.
    »Du willst also sagen, dass die Bemalung so wichtig war wie die Schnitzerei«, sagte Gayle.
    »Sogar noch wichtiger. Aber die Bemalung war nur ein Teil des Vorgangs. Es handelt sich um eine Kunstform, die heutzutage praktisch unbekannt ist. Man fing mit einem Stück Holz an, aus dem das Kernholz entfernt wurde, damit es sich beim Trocknen nicht verzog oder Risse bekam. Dann strich man das Holz mit Leim ein und kleidete es in ein leinenartiges Gewebe, damit die Oberflächenverzierung später nicht sprang. Als Nächstes verkleidete man das Gewebe mit einer Gipsmasse -man konnte sie einritzen, um die Illusion von Textilien zu schaffen, oder, wie in diesem Fall, von Haarsträhnen. Man konnte auch bestimmte Dinge direkt daraus formen, etwa die Blumenornamente der Krone oder die Brust, mit der sie das Kind stillt.«
    Ich bemerkte, wie Gayle und Brian verlegene Blicke wechselten. Doch sicher nicht, weil ich die Aufmerksamkeit auf ihre Brust gelenkt hatte? Ich fuhr fort: »Teile, die separat geschnitzt wurden -die Figur des Kindes, zum Beispiel, oder Marias Hände -, hat man auf die Hauptfigur gedübelt oder geklebt, und die Fugen wurden mit Tuch verkleidet. Dann wurden die Pigmente aufgetragen, und man verwendete Goldblatt und farbige Glasuren, um alle möglichen Effekte zu erzielen. Das Ziel bestand letztendlich darin, einen Gegenstand zu schaffen, der den frommen Betrachter tief bewegen würde.«
    »Nicht schlecht«, sagte Gayle. »Stellt euch vor, wie sie ausgesehen haben muss, wenn sie von Hunderten funkelnder Kerzen umgeben war oder vielleicht vom Licht eines Buntglasfensters beleuchtet wurde ... Irgendwie unheimlich, wenn ihr mich fragt.«
    »Du sagst, sie haben die Fugen mit Tuch ausgefüllt?«, sagte Brian. »Das hat hier dann aber nicht sehr gut funktioniert.« Er zog in der Luft eine Linie entlang der Mitte der Figur nach.
    Ich schaute genauer hin und sah, was er meinte. Der Spalt war zwar dünn, aber allzu real.
    »Ich hatte es zuerst für einen Riss gehalten«, sagte er.
    Der zündholzdicke Spalt lief über die Vorderseite von Marias Gewand, von dem bestickten Unterrock bis zur Gürtelschnalle, und von dort an dem langen Gürtelende nach unten.
    »Sieht aus, als hätte man die Gestalt aus zwei Teilen gefertigt, wahrscheinlich aus demselben Baumstamm«, sagte ich. »Der Spalt muss breiter geworden sein, als sich das Holz zusammenzog.« Aber

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