Die Pestglocke
mittelalterlichen Erbe zu kommen – weil genau dieses Erbe durch die Neubautätigkeit zerstört wird. Und zwar mit Zustimmung Ihrer Stadtverwaltung.«
»Sie haben keine Ahnung, unter welchem Druck wir stehen. Wir tun unser Möglichstes, aber es ist, als würde man sich gegen eine Flut stemmen.« Ushers Miene verfinsterte sich. »Und manche dieser Leute schrecken vor nichts zurück.«
5. Kapitel
A ls ich den Ausstellungsraum betrat, stand die Statue mit dem Gesicht zu mir auf einer niedrigen Bühne, die für gelegentliche Lesungen und Vorträge genutzt wurde. Gayle und ein Mitglied des Ausgrabungsteams – Brian Morley, ein schlaksiger Student, der eine randlose Brille und einen zerknitterten grünen Hut trug – sahen beide zu der Figur hinauf. Sie war bemalt und vergoldet, und ich sah auf den ersten Blick, dass sie von beträchtlichem künstlerischem Wert war. Es handelte sich außerdem unverkennbar um eine Darstellung der Jungfrau Maria mit Kind.
Marias Mantel war – zu meiner Überraschung -leuchtend rot, das gegürtete Gewand vollständig golden. Das Kind trug einen schlichten weißen Umhang. Einen Ausgleich zu den lebhaften Farben der Kleidung bildeten die dezenten und lebensnahen Hauttöne, die vom gesunden Rosa im Gesicht des Kindes bis zum blassen, aber von einer leichten Röte überzogenen Teint der Frau reichten. Noch verblüffender war ihr Gesichtsausdruck: Ich hatte das Gefühl, als würden mich die blauen Augen durchdringend ansehen, während ein Lächeln um ihre roten Lippen zu spielen schien. Es war ein bisschen beunruhigend – als würden wir uns gegenseitig beobachten.
Einen runden Sockel, auf dem sie stand, nicht eingerechnet, hatte die Statue etwa meine Größe. Ihr Gewicht ruhte auf dem linken Bein, das rechte war angewinkelt und zeichnete sich durch das Gewand ab. Diese frauliche Haltung wurde noch durch den Faltenwurf ihrer Kleidung betont und durch die Art, wie der Gürtel, der fast bis zum Boden hinabhing, der geschwungenen Linie ihres Umhangs folgte. Ein Grund dafür, warum sie so stand, war, dass sie den Jesusknaben – beinahe kleinkindgroß und ebenfalls strohblond – auf die linke Hüfte gesetzt hatte und ihn mit dem linken Arm unter dem Gesäß stützte. Das Kind hatte eine Hand auf ihrer Schulter und die andere um die äußere Wölbung ihrer Brust gelegt, während es saugte, den Kopf vom Betrachter abgewandt und die Augen auf das Gesicht seiner Mutter fixiert. Mit den Fingern der rechten Hand hielt sie die Vorderseite ihres Gewands offen, um die Brust zu entblößen. Der Bogen des Kinderrückens vervollständigte die konvexe Krümmung der Schnitzerei auf dieser Seite, und die Neigung des Kopfes der Mutter bildete ein Gegengewicht dazu und schuf den oberen Teil einer ungefähren S-Form mit einem kürzeren oberen und einem verlängerten unteren Abschnitt.
»Sind die Farben nicht verblüffend?«, sagte Gayle zu Brian, als ich hinter sie trat. Sie machte ein Foto. Die beiden hatten mich noch nicht bemerkt.
»Ein bisschen viel für meinen Geschmack«, erwiderte er. Er nahm seine Brille ab und polierte sie mit dem Saum seines T-Shirts, als würden die Farben die Gläser verschmieren.
Ein Oberlicht in der Decke über der Statue verwandelte Marias vergoldete Krone in einen blendenden Heiligenschein um ihren Kopf. Mit den beiden Betrachtern, die zu ihr emporblickten, wirkte das Ganze wie eine Momentaufnahme aus einer surrealen Modenschau und erinnerte mich irgendwie an eine Szene aus einem Fellini-Film, auf dessen Titel ich gerade nicht kam.
»Nein, sie ist wunderschön«, sagte Gayle.
»Finde ich auch«, stimmte ich zu.
»Ah, hallo, Illaun. Wir haben sie eben erst hereingebracht«, sagte Gayle.
»Wir mussten den Fahrer bitten, uns zu helfen«, ergänzte Brian und setzte seine Brille wieder auf. »Sie ist schwerer, als man glauben möchte.«
Ich stieg auf das Podest und ging um die Skulptur herum. Der Rücken war vollständig ausgearbeitet, der Umhang fiel in Falten, das unverhüllte Haar mit den vergoldeten Strähnen war zu zwei dicken Zöpfen zusammengefasst, die bis unter ihre Hüfte hinabhingen, wo beide von schwarz-gold gemusterten Bändern verlängert wurden, die fast bis zum Saum des Umhangs reichten. In den geflochtenen Zöpfen waren realistisch anmutende Haarsträhnen zu sehen – eine Wirkung, die dadurch erreicht wurde, dass man vor dem Bemalen die Gipshülle eingeritzt hatte, mit der die Figur überzogen war.
Aus der Nähe betrachtet, waren die Farben ihrer Kleidung
Weitere Kostenlose Bücher