Die Pestglocke
Stunde später zurückrief, dauerte es nicht lange, dann streichelte ich schon wieder ihre Stacheln. »Sie scheinen sich ja gut mit Pfarrer Burke zu verstehen«, sagte sie vorwurfsvoll, als ich ihr von seinem Interesse an der Skulptur erzählte.
»Ich singe im Kirchenchor, Muriel, deshalb kenne ich ihn natürlich ganz gut. Aber ich habe ihn, was die Eigentumsrechte an der Statue angeht, nicht im Geringsten im Zweifel gelassen. Wenn er sich allerdings etwas vorgenommen hat, dann setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu erreichen. Ich sag Ihnen nur, wie es ist.«
»Mag sein«, erwiderte sie mit ihrer heiseren Stimme. »Aber ich kann Ihnen sagen, dass seine Aussichten, die Statue zu bekommen, etwa so hoch sind wie meine, die erste Frau auf dem Mond zu werden.«
Sie hatte den Verlauf unserer Ausgrabung über die Monate hinweg mit Interesse verfolgt, aber diese Skulptur weckte nun erst wirklich ihre Aufmerksamkeit. Eine Schnitzerei von dieser Qualität wäre nicht nur eine willkommene Bereicherung für die kleine Sammlung religiöser Bildhauerei des Mittelalters im Museum, sondern würde ohne Frage wie ein Magnet auf Besucher wirken – was sich gleichermaßen der Gemeindepriester zunutze machen wollte, wenn auch aus anderen Gründen.
»Pfarrer Burke ist wirklich überzeugt, dass es sich um die Muttergottes von Castleboyne handelt«, sagte ich. »Und in diesem Fall wäre das Museum in einer unangenehmen Lage.«
»Aber das Museum ist voller Bischofsstäbe, Kelche, Prozessionskreuze, was Sie wollen. Was ist also dabei, wenn wir noch einen Sakralgegenstand aufbewahren?«
»Nach seiner Ansicht ist die Statue immer noch ein heiliger Gegenstand, kein Museumsstück. Sie repräsentiert mittelalterliche Frömmigkeit in ihrer intensivsten Form, den Marienkult auf seinem Höhepunkt, und er will jetzt, da der religiöse Eifer unter den Katholiken nachlässt, davon zehren.«
»Und wie wahrscheinlich ist es, dass es sich um das fragliche Bildnis handelt?«
Wir hatten beide die Digitalbilder vor uns auf dem Schirm, die ich ihr geschickt hatte.
»Wenn sie wirklich aus der Zeit vor der normannischen Invasion stammte, wie er behauptet, dann müsste sie zunächst einmal viel gröber, steifer sein, und die Heilige Jungfrau würde wahrscheinlich auf einem Thron sitzen. Zweitens war die Darstellung von Maria als stillende Mutter vor 1200 selten. Für mich handelt es sich um eine gotische Schnitzerei, irgendwann zwischen 1250 und 1400 entstanden. Die geneigte Haltung, das Vorschieben der Hüfte, die Art, wie die Falten des Materials als Schnitzerei ausgearbeitet und nicht nur eingekerbt sind, all das deutet darauf hin. Außerdem ist in Haltung und Darstellung der Kleidung eine gewisse Zurückhaltung erkennbar, wohingegen es nach 1400 zur Entwicklung der sogenannten ›schönen Madonnen‹ kam – man stellte sie gern in rauschenden Kleidern dar, häufig mit einem träumerischen Gesichtsausdruck, die ganze Wirkung sehr süßlich.«
»Ich betrachte gerade die Rückseite – die langen Zöpfe, kein Schleier, dieser rote Umhang ... Was halten Sie davon?«
»Das ist alles rätselhaft. Aber es könnte uns verraten, woher sie stammt, und ich bezweifle, dass es sich dabei um Irland oder Britannien handelt. Sie ist kunstvoller als das, was wir zu dieser Zeit hier produziert haben – und wovon ohnehin kaum etwas übrig ist. Eines steht allerdings fest: Sie wurde dafür geschaffen, ringsum betrachtet zu werden, vielleicht in der Mitte eines eingezäunten Schreins, sodass große Pilgergruppen sie von allen Seiten sehen konnten. Sie hätte sich auch dazu geeignet, an Festtagen in einer Prozession getragen zu werden.«
»Was wollen Sie damit jetzt sagen? Dass es sich doch um einen Kultgegenstand gehandelt hat?«
»Sie könnte als etwas in der Art geplant gewesen sein, aber es gibt eine Sache an der Statue, die auf Fotos nicht sofort ins Auge springt: Nirgendwo auf der Oberfläche sieht man irgendwelche Spuren von Schmutz, Rauch oder Kerzenfett, keine abgegriffenen Stellen, keine abgesprungenen Stücke, kein Abblättern der Farbe, überhaupt keinerlei Schäden. Sie hätte nicht beinahe hundert Jahre lang ein Objekt der Verehrung sein können, ohne irgendwelche Spuren davonzutragen.«
»Könnte sie nicht repariert und neu bemalt worden sein? Bevor sie versteckt wurde, meine ich.«
»Doch. Aber das würde die Entscheidung, sie zu beerdigen, noch sonderbarer machen.«
»Es sind durchaus Fälle bekannt, dass Wertgegenstände damals auf
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