Die Pestspur
restliche Flüssigkeit schütteten sie direkt vor ihre Haustüren und auf den Boden an den Hauswänden entlang. Sie sollte in das Erdreich eindringen und die Boten der Hölle davon abhalten, jemals wieder emporzusteigen, um die nächste Pestwelle anzukündigen.
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In Staufen gab es eine Wohnstätte, die ebenfalls dringend gereinigt und ausgeräuchert werden musste – allerdings nicht wegen der Pest. Das war die Kammer des Arztes, der es sich jetzt darin gut gehen ließ. Da ihn die Menschen momentan nicht mehr sehen mochten, weil sein bloßer Anblick sie an die Schrecken der Pest erinnerte, hatte er jetzt seine gute Ruhe und ließ sich wie in früheren Zeiten täglich volllaufen. Der Totengräber war ja nicht da, um ihn zu bremsen. Dennoch musste der Medicus darauf achten, nicht unvorsichtig oder gar übermütig zu werden. Gestern hatte er in der ›Krone‹ gleich mehrere Lokalrunden geschmissen. Die Zecher waren zwar über die plötzliche Großzügigkeit des als besonders geizig bekannten Arztes verwundert gewesen, hatten aber dem geschenkten Gaul nicht ins Maul geschaut und gesoffen, was dessen prall gefüllter Geldbeutel hergegeben hatte. So war die ungewohnte Menschenfreundlichkeit des Arztes zwar allseits aufgefallen, aber es hatte niemanden gekümmert. Die Männer waren froh, jetzt wieder etwas sorgenfreier ins Wirtshaus gehen zu können – auch wenn etliche von ihnen beim Wirt Kerben ins Holz schnitzen lassen mussten.
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Einige von ihnen hatten es geschickt verstanden, vor ihren Frauen Geld zu verstecken, damit diese es wegen der schon seit Jahren kränkelnden Großmutter oder des altersschwachen Großvaters nicht dem Medicus in den Rachen werfen konnten. »Der Opa wäre sowieso bald an Altersschwäche gestorben«, rechtfertigte dies einer der Stammtischbrüder vor seinem Gewissen. Mit dem so gesparten Geld konnte er sich jetzt unverdünntes Bier oder teuren Wein durch den eigenen Rachen laufen lassen. Sogar der Schuhmacher, der noch vor zwei Wochen einen Feldzug gegen die jüdische Familie Bomberg hatte anzetteln wollen, hatte sich wieder einigermaßen beruhigt. Vielleicht schlug er deshalb versöhnlichere Töne an, weil weder er noch seine Frau Opfer der Seuche geworden waren. Da er keine Kinder, geschweige denn weitere Verwandte hatte, wäre sein derzeitiges Weltbild so ziemlich in Ordnung … wenn er auch noch das Haus der Bombergs sein eigen nennen dürfte.
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Auch im Schloss wurde alles auf Vordermann gebracht. Weniger wegen der Pest, sondern vielmehr, weil in ein paar Tagen Heiligabend war und deswegen seltener Besuch erwartet wurde. Alle mussten mit anpacken, damit es an Weihnachten so richtig gemütlich sein konnte. Während dem Stallknecht Ignaz die Pflege des Schlosshofes und der Wirtschaftsgebäude oblagen, nahm Konstanze die Hausmagd Rosalinde unter ihre Fittiche.
Obwohl die gräfliche Familie immer noch in der Bodenseestadt Konstanz weilte und in nächster Zeit wohl kaum nach Staufen kommen würde, hatte die designierte Hausherrin zusammen mit Rosalinde schon vor einiger Zeit die Gemächer des Herrschaftshauses nach Ungeziefer abgesucht und durchgeputzt. Es war eine schweißtreibende und staubige Arbeit gewesen, die Konstanze immer mehr zum Husten gebracht hatte.
Sie sehnte die Rückkehr ihres ältesten Sohnes in diesem Jahr ganz besonders herbei. Dies war das Vorrecht der Mutter. Aber auch der Rest der Familie Dreyling von Wagrain konnte es kaum erwarten.
Um den Studiosus sofort sehen zu können, wenn er aus dem Dunkel des Ortes heraus den Schlossberg hochkam, postierte sich Rudolph an der nordöstlichen Ecke der Burg, von wo aus er nicht nur einen guten Blick die Schlossstraße hinunter auf den größten Teil des Dorfes, sondern auch zum Entenpfuhl hatte. Immer, wenn sein Blick zufällig dorthin streifte, überkam ihn ein gruseliges Gefühl, und er musste an die schrecklich zugerichtete Wasserleiche denken. Um sich davon abzulenken, klopfte er sich Gedanken an das bevorstehende Weihnachtsfest – das er in erster Linie mit reichlich essen und trinken verband – in seinen Schädel.
»Wir möchten Eginhard überraschen und schon am Haupttor begrüßen. Sag uns also umgehend Bescheid, wenn du ihn kommen siehst«, schwor Konstanze Rudolph ein.
»Ja, Herrin!«, antwortete die Schlosswache dienstbeflissen, dachte aber sofort wieder an Rotwein und einen deftigen Braten.
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An diesem 20. Dezember war es besonders früh dunkel geworden, weswegen die Mutter zunehmend unruhiger
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