Die Pestspur
begehrten – wenn es sein musste, sogar mit Gewalt – war eine Tatsache, mit der Ulrich Dreyling von Wagrain nicht konform ging. Und Lodewig schien ihm mit dieser Einstellung unwissentlich zu folgen. Immerhin war er im Lichte eines harmonischen Miteinanders aufgewachsen und wusste den Segen einer liebevollen Beziehung zu schätzen … auch wenn seine Mutter allen Familienmitgliedern gegenüber hier und da eine unnötige Strenge und manchmal sogar eine gewisse Kälte dem Vater gegenüber an den Tag legte.
So hatten die beiden jungen Leute ihr inniges Glück über eine lange Zeit hinweg heimlich genossen, ohne es zum Äußersten kommen zu lassen.
*
Zwischenzeitlich war es so richtig kalt und ungemütlich geworden. Lodewig und Sarah trafen sich jetzt meistens im Heuschober der Bombergs, wo sie sich ein gemütliches Plätzchen hergerichtet hatten. Auf der weichen Decke, die Sarah über das stupfelige Heu gelegt hatte, war es kuschelig weich und urgemütlich. Vom darunter gelegenen Stall strömte wohlige Wärme durch die Ritzen nach oben. So war es nicht verwunderlich, dass Sarah über kurz oder lang von ihren Gefühlen übermannt wurde. Sie konnte einfach nicht mehr anders. Und da ihr heute ganz besonders wohlig war, nahm sie entschlossen Lodewigs Hand und führte sie sanft dorthin, wo ihre Unschuld sehnlichst darauf wartete, berührt zu werden. Lodewig erschrak derart, dass er zurückzuckte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Jetzt war es so weit … und er hatte seine Hand ängstlich zurückgezogen. Obwohl auch er es nicht erwarten konnte, war ihm die Situation irgendwie unangenehm.
»Vielleicht wäre es doch an mir gewesen, den ersten Schritt zu tun?«, schalt er sich.
»Was murmelst du da?«
»Ach nichts!«
Da Sarah gemerkt hatte, dass Lodewig ängstlich geworden war, streichelte sie ihm über die Wange und sagte leise: »Wir haben Zeit. Es eilt nicht … Obwohl ich es heute möchte«, hauchte sie ihm noch zart ins Ohr.
Und daran arbeiteten sie zunehmend mutiger. Da es für beide das erste Mal war, so etwas Schönes erleben zu dürfen, stellten sie sich allerdings etwas ungelenk an und verursachten mehr Geräusche, als ihnen lieb war. Und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Jakob Bomberg in den Schober kam, um Stroh für die Geiß und die Hühner durch eine Luke nach unten in den Stall zu werfen.
Hoffentlich kommt er nicht hier hoch, schoss es den beiden gleichzeitig durch den Kopf.
Jakob Bomberg hörte etwas, stutzte kurz und schimpfte: »Ihr Scheiß Ratten! Na wartet, ich erwische euch noch.«
Waren die beiden Liebenden schon ängstlich geworden, als Sarahs Vater den Schober betreten hatte, wussten sie jetzt nicht, wie sie sich verhalten sollten, entschieden sich letztendlich aber tapfer, sich dem Vater freiwillig zu stellen. Obwohl sie eine Riesenangst vor seiner Reaktion hatten, standen sie auf, um ihre Gewandungen zurechtzuzupfen. Als sie dabei im weichen Heu versanken und wieder auf die Schafwolldecke zurückfielen, verursachten sie erneut Geräusche. Durch das Hinfallen rieselte sogar etwas Heustaub durch die Ritzen nach unten.
Jakob Bomberg blickte nach oben und schimpfte abermals: »Mistviecher!«
Während er mit seiner Arbeit fortfuhr, hatte sich Sarah anders entschieden und drückte Lodewig sanft aber bestimmt eine Hand auf den Mund. »Pssst!«
Die beiden blieben noch so lange still aneinander gekuschelt, bis sie sicher waren, dass von Sarahs Vater keine Gefahr mehr drohte. Als er weg war, platzte ein verhaltenes Lachen aus ihnen heraus, und sie begannen wieder damit, sich zart zu küssen und zu streicheln. Dies taten sie jetzt so lange ungestört, bis ein ungestümer Schrei des wonnigen Schmerzes und des innigen Gefühles Lodewig dazu veranlasste, seine Lippen besonders fest auf Sarahs zu drücken, damit deren Eltern nichts von ihrem Glück hören konnten.
*
Auf dem Nachhauseweg träumte Lodewig von dem, was er soeben erlebt hatte. Als er seine Hände, mit denen er Sarah überall berührt hatte, an ihrer statt küsste, nahm er zum ersten Mal in seinem Leben den zarten Duft körperlicher Liebe wahr.
Es war der zweite Adventssonntag, an dem inmitten von allgemeinem Leid und Elend ein Kind zweier Konfessionen gezeugt worden war.
Zur gleichen Stunde starb ein paar Häuser weiter der kleine Sohn des Seifensieders. Dessen Eltern konnten nicht wissen, dass es das letzte menschliche Wesen gewesen sein sollte, dessen Leben in Staufen von der vermeintlichen Pest ausgelöscht worden war.
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