Die Pestspur
Kommt! – Schnell!«, presste Lodewig zitternd heraus, nachdem ihm der Propst die Tür geöffnet hatte.
»Lodewig – was ist mit dir? Du bist ja ganz bleich im Gesicht«, stellte der priesterliche Freund mit Entsetzen fest.
»Ich … ich muss Euch …«
Der Seelsorger legte einen Arm um Lodewig und schob ihn ins Haus.
»Nun beruhige dich, mein Sohn, und komm erst einmal herein.«
»Nein, nein. Ihr sollt mit mir kommen«, wehrte Lodewig ab.
Obwohl sich der junge Mann zunächst dagegen wehrte einzutreten, gelang es dem Propst, ihn in sein Arbeitszimmer zu locken.
»Und nun erzähle, was dich bedrückt.«
Während Lodewig vom Gesundheitszustand der Mutter berichtete und ihn um priesterlichen Beistand bat, brach er in Tränen aus.
»Ich liebe sie doch so. Mutter darf nicht sterben.«
Der Propst drückte ihn herzlich, aber etwas hölzern an sich. Durch die freundschaftliche Verbindung zur Familie Dreyling von Wagrain wusste er nicht so recht, wie er sich in diesem Moment verhalten sollte. In seiner Unsicherheit versuchte er, Trost zu spenden, indem er Gottes Herrlichkeit pries und aus Verlegenheit heraus begann, aus Psalm 95 zu zitieren: »Groß ist der Herr und hoch zu loben …«
Aber er merkte schnell, dass er Lodewig damit nicht trösten konnte. So begann er hastig, seine Tasche mit den bereits zusammengepackten Utensilien, die er für die Krankensalbung benötigte, zu suchen.
Der einerseits wegen seiner Verliebtheit überglückliche, wegen Konstanzes Zustand aber zu Tode betrübte Sohn des Kastellans wischte sich die Tränen ab und bat den Priester um einen Gefallen: »Könnt Ihr bitte vorausgehen? Ich habe noch etwas anderes zu erledigen und komme später nach.«
»Aber …«
Lodewig hatte jetzt keine Lust für Erklärungen und eilte aus dem Gebäude. Er wollte zu Sarah. Es war ihm ein Herzensanliegen, sie und ihre Familie, die ja – so Jesus Christus und Jahwe es wünschten – vielleicht bald auch seine Familie sein würde, über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren. Er nahm sich vor, tapfer zu sein und nicht mehr zu weinen, wenn er dort ankommen würde. Immerhin war er kein Kind mehr, sondern ein Mann im heiratsfähigen Alter, der bald eine Waffe tragen durfte.
Bevor Lodewig an die Haustür der Bombergs klopfte, schnaufte er tief durch und kontrollierte mit einem Tuch, ob seine Augen trocken waren. Mit Grimassen versuchte er, sein Gesicht zu entknittern, um möglichst locker auszusehen. Gerade als er sich die Gewandung zurechtzupfte und noch bevor er anklopfen konnte, öffnete Judith Bomberg die Tür – sie hatte draußen etwas gehört.
»Ach, du bist es Lodewig! So eine Überraschung. Wie geht es …« Während sie ihren designierten Eidam freundlich lächelnd fragen wollte, ob mit ihm und im Schloss alles in Ordnung sei, wich das Leuchten aus ihrem Gesicht. Einer erfahrenen Mutter wie ihr konnte Lodewig nichts vormachen; sie sah die verweinten Augen des jungen Mannes und wusste sofort, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Deswegen drückte sie ihn sanft an sich, noch bevor sie ihn hereinbat. Als Lodewig über Judiths Schulter hinweg Sarah auf sich zukommen sah, verkrampften sich seine Gesichtszüge und seine Hände. Schnell vergrub er den Kopf tiefer an Judiths Schulter. Wenn er schon nicht verhindern konnte, dass ihm erneut Tränen aus den Augen schossen, so wollte er wenigstens vermeiden, dass ihn Sarah so sah. Aber es nützte nichts: Ein Blick des Mädchens genügte, und Judith schob Lodewig ebenso sanft, wie sie ihn an ihr Herz gedrückt hatte, zurück, damit ihn Sarah in ihre Arme nehmen konnte.
*
Inzwischen hatten sich Ulrich, Eginhard und Diederich zusammen mit einem Teil des Gesindes in der Schlosskapelle versammelt. Im Vertrauen auf Gott hatte der Kastellan angeordnet, dass die heilige Messe für seine Frau vor der Krankensalbung und nicht erst danach abgehalten werden sollte.
»Vielleicht hilft es ihr doch noch, wenn wir alle gemeinsam für sie beten«, hatte er seinen Söhnen gegenüber argumentiert und sich dabei von dem Gedanken leiten lassen, dass es wichtiger sei, für eine Lebende statt für eine Tote zu beten.
Auch wenn es sich aus seiner Sicht bei der Krankensalbung um ein unabdingbares christliches Ritual handelte, durch das Sterbende mit den heiligen Sakramenten ins Jenseits entlassen wurden, war dies für den Kastellan zweitrangig. Und seine Söhne standen zu dieser unorthodoxen Einstellung ihres Vaters … auch wenn es so knapp werden würde und
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