Die Pestspur
Plausch. Es war der Tag des Herrn, und die Sonne strahlte, als wollte sie es allen noch einmal so richtig zeigen, bevor drohende Herbstwolken aufzogen. Ein idealer Tag also für einen Spaziergang. Wie für alle hart arbeitenden Menschen war es auch für die beiden Frauen ungewohnt, am helllichten Tag einfach so spazieren zu gehen. Was für die Aristokraten in Kempten und in Lindau – möglicherweise sogar in Immenstadt – ganz normal war, kannten die Staufner nicht. Während für die städtischen Bürger sonntägliche Ausflüge chic geworden waren und dazu genutzt wurden, die neue Garderobe auszuführen und Konversation zu betreiben, arbeiteten die Bauern und Handwerker meistens auch am Tag des Herrn, wenngleich sie an den Sonntagen mit dem Besuch der Messe auch ihre allwöchentliche Christenpflicht erfüllten. Wie immer freuten sie sich auf das Gloria, die drei biblischen Lesungen einschließlich des Evangeliums, die an Sonntagen verpflichtende Homilie und das Glaubensbekenntnis. Hierzu putzten sie sich zwar etwas heraus, gaben sich dabei aber nicht allzu viel Mühe, da sie danach gleich wieder ihrem gewohnten Tagewerk nachgehen mussten. Dass der Propst nach den Messen stets die Flügel des Hauptportals aufriss, um den unangenehmen Geruch gegen Frischluft einzutauschen, ahnten seine Schäflein nicht.
*
Seit Lodewig wusste, dass sich seine Mutter am Sonntag mit Sarahs Mutter treffen würde, schlich er – einem rolligen Kater gleich – auffällig um sie herum.
Sie hatte längst bemerkt, was in ihrem Sohn vorging und erlöste ihn von seinen Leiden.
»Was ist mit dir los? Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie ihn scheinheilig, als ihr sein Verhalten während des Kochens lästig geworden war.
Der Heranwachsende traute sich noch nicht, ihr seine Gefühle Sarah gegenüber zu offenbaren. Er war zum ersten Mal verliebt und konnte noch nicht so richtig damit umgehen. Und weil ihm seine Eltern beigebracht hatten, dass man sich im Leben nur einmal verliebt, nahm er die Sache umso ernster.
Da die Mutter spürte, wie ihr Sohn litt, wollte sie die Spannung herausnehmen. Sie putzte ihre Hände an der Schürze ab und setzte sich auf die Ofenbank. »Komm her, mein Sohn.«
Lodewig rutschte neben sie und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der dem eines geprügelten Hundes glich. Die Mutter drückte seinen Kopf sanft an ihre Schulter. »Ich weiß, dass du Sarah lieb hast«, kam sie ohne Umschweife zur Sache.
»Woher …«
»Eine Mutter spürt das«, sagte sie lächelnd. Die Gefühle des jungen Mannes hüpften hin und her. Obwohl er sich freute, dass es nun heraus war, brachte er zur Antwort nur einen tiefen Seufzer hervor. Bevor er etwas sagen konnte, entspannte die Mutter die Situation noch weiter, indem sie ihm mit ruhiger Stimme offenbarte: »Sarah wird beim morgigen Spaziergang dabei sein.«
Überglücklich sprang Lodewig auf, küsste seine Mutter kurz auf die Stirn und drückte sie eine Spur zu heftig, bevor er fröhlich aus dem Raum rannte.
»Na ja, er wird’s schon noch lernen«, schmunzelte Konstanze und widmete sich wieder ihrer Küchenarbeit, nachdem sie ihre ständig triefende Nase geputzt und ihren Mund- und Rachenraum durch Gurgeln mit warmem Salbeisud wenigstens etwas entschleimt hatte.
*
Die Sonne stand am Zenit, als sich Judith Bomberg mit ihren Töchtern Sarah und Lea auf den Weg zum Schloss machte. Dort wurden sie schon von Konstanze und Lodewig, die ihr Mittagsmahl etwas früher eingenommen hatten als sonst, erwartet.
»Schön, dass ihr hier seid«, begrüßte Konstanze die fein gewandeten Jüdinnen, die ihre Haare züchtig hochgesteckt und mit Bändern verziert hatten. Während Judiths Haare von einer roten Schleife durchzogen waren, durfte Sarah mit einem weißen Seidenband ihre Jungfräulichkeit demonstrieren. Nur die kleine Lea trug ihr langes Haar offen.
Als Sarah Frau Dreyling von Wagrain die Hand gab, machte sie einen höflichen Knicks und ging dann direkt auf Lodewig zu. »Ich grüße auch dich, Lodewig.«
»Äh … Ja … Ich dich auch, Sarah«, stammelte Lodewig, dem schier das Herz in die Hose gerutscht war. Hastig wischte er seine feuchten Handflächen an seiner Beingewandung ab, um Sarah ordentlich begrüßen zu können.
Der verliebte junge Mann hatte sich aus eigenem Antrieb heraus – ohne Druck von Seiten seiner Mutter – sein schönstes Wams übergezogen und die ansonsten kaum zu bändigenden Haare brav nach hinten gekämmt. Eigentlich hasste er diese
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