Die Pestspur
Menge eingenommen, würde es zuerst schmerzhafte Krämpfe und eine starke Unterkühlung verursachen, die zu Herz- und Atemlähmung führen würden. Er genoss es, das Kraut mit dem Wiegemesser zu zerhacken. Zunächst wollte er nicht das ganze Material verarbeiten, besann sich aber auf eine Aussage von Hippokrates, die er wissentlich falsch verstanden haben wollte. Der berühmteste Arzt des Altertums sollte gesagt haben: ›Die Dosis macht’s!‹ So verarbeitete der Medicus seinen ganzen Vorrat an Eisenhut.
»Sicher ist sicher! Ich habe ja immer noch den Gefleckten Schierling, dessen Wirkstoff Coniin eine ähnliche Wirkung zeigt, falls mir der Eisenhut ausgehen sollte«, murmelte er, während er die frisch verarbeitete Giftpflanze den bereits vorbereiteten Kräuterhäufchen beimischte. Alles zusammen war eine tödliche Mixtur für seine ohnehin schon geschwächten Patienten, auf deren vielseitige Wirkung er gespannt war. »Wenn das Gift bei jedem anders wirkt, macht dies die Sache nicht nur spannender, sondern auch glaubwürdiger. So werden die Menschen nicht merken, dass sie von meinem Sud krank geworden sind und denken, dass es nur der Würgegriff der Pest sein kann, mit dem sie ab jetzt zu kämpfen haben.«
*
Der erste Patient, der den Medicus innerhalb der letzten Tage bereits zum zweiten Mal konsultierte, war der Rotgerber Karlheinz Frej.
Mit einem »Gott zum Gruße, mein werter Herr Frej. Tretet ein«, begrüßte der Medicus seinen ersten Patienten, der jetzt als Erster die zweite Stufe testen sollte. Der Gruß des zufrieden wirkenden Arztes fiel so überschwänglich aus, als wäre Frej der erste Kunde bei der Eröffnung eines herrschaftlichen Kaufhauses in der freien Reichsstadt Lindau. Doch diese aufgesetzte Freundlichkeit hatte Methode. Denn dieses Mal lief die Sache etwas anders als beim ersten Besuch des Rotgerbers im Behandlungsraum des durchtriebenen Arztes.
Da sich der Handwerker vor Schmerzen krümmte und ihm der kalte Schweiß aus allen Poren schoss, half der Arzt dem armen Mann auf die Behandlungsliege – ein grob zusammengenageltes Holzgestell, in das ringsum eine Rinne eingeschnitzt war. Wäre das Gestell nicht so niedrig gewesen, hätte man meinen können, dass es die Arbeitsfläche einer Küche oder eines Schlachters war. Dem Rotgerber war das egal, er war froh, endlich liegen zu dürfen.
Obwohl der Arzt sah, dass sein Patient quälende Schmerzen erdulden musste, behandelte er ihn nicht sofort, sondern erklärte ihm scheinheilig, wie die Behandlung ablaufen würde. »Selbstverständlich nehme ich auch für die zweite Behandlung kein Geld an. Aber ich habe nicht gewusst, dass es so schlimm ist und die Patienten gleich scharenweise zu mir kommen. Offensichtlich hat es sich herumgesprochen, dass ich aus karitativen Gründen heraus helfe, der um sich greifenden Krankheit entgegenzutreten und nur von denjenigen Geld annehme, die es entbehren können.« Als er dies sagte, hatte er wie immer bewusst auf die Benennung des Krankheitsbildes als ›Seuche‹ oder ›Pest‹ verzichtet. Egal, was auch kommen mag: Mir wird man niemals nachsagen können, etwas damit zu tun gehabt zu haben, freute er sich über seine Raffinesse und wandte sich mit wichtigtuerischer Miene seinem Patienten zu.
Obwohl den Rotgerber im Moment herzlich wenig interessierte, was der Arzt erzählte, nickte er. Er wollte nur, dass mit der Behandlung begonnen wurde.
Aber der Medicus war mit seinem mehr als sinnlosen Geschwafel noch lange nicht fertig. Immerhin musste seine Botschaft von diesem Patienten weitergetragen werden, und dies auf schnellstem Wege … noch bevor er starb.
»Ich habe Dutzende Kranke behandelt«, fuhr er also fort und versicherte sich dabei, ob sein Patient alles verstand, »dabei habe ich meinen gesamten Heilpflanzenvorrat aufgebraucht. Und da ich kein Geld genommen und für meine Mühen höchstens Dank erhalten habe, kann ich es mir jetzt nicht erlauben, die Vorräte aufzufüllen. Obwohl ich gerne gleiches Recht für alle, die zu mir kommen, walten lassen und alle bedauernswerten Opfer dieser …«, er hüstelte fast etwas verlegen tuend, »schlimmen Krankheit behandeln möchte, kann ich mir dies nicht mehr erlauben.«
Mühsam richtete sich der Rotgerber auf und stützte sich auf seine Ellenbogen. »Sagt: Habt Ihr wenigstens für mich noch genügend Heilkräuter?«
Jetzt ist er so weit, hoffte der Medicus und setzte noch einen drauf: »Wisst Ihr, werter Herr Frej …« Der fintenreiche Arzt legte
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