Die Pfeiler der Macht
»Gute Nacht, Vater.« Hugh blies die Kerze aus, verließ das Zimmer und schloß die Tür. Maisie hatte Kakao gemacht. »Du hättest jetzt sicher lieber einen Brandy«, sagte sie, »aber es scheint keiner im Hause zu sein.« Hugh lächelte. »Leute der unteren Mittelklasse wie wir können sich keine Spirituosen leisten. Kakao ist gerade das richtige.« Tassen und eine Kanne standen auf einem Tablett, aber weder Maisie noch Hugh griffen danach. Sie standen sich mitten im Zimmer gegenüber und sahen einander in die Augen. Schließlich sagte Maisie: »Ich las in der Nachmittagszeitung von der Schießerei und kam hierher, weil ich wissen wollte, wie es dir geht. Ich stellte fest, daß die Kinder allein waren, und hab' ihnen ein Abendbrot gemacht. Danach haben wir auf dich gewartet.« Sie lächelte. Es war ein resigniertes, gefaßtes Lächeln, das Hugh zu verstehen gab, daß es an ihm lag, was als nächstes geschah. Unvermittelt fing er an zu zittern. Er suchte Halt an einer Stuhllehne.
»Es war ein anstrengender Tag«, sagte er mit bebender Stimme. »Mir ist etwas merkwürdig zumute.«
»Vielleicht solltest du dich hinsetzen.«
Plötzlich überwältigte ihn die Liebe zu ihr. Anstatt sich hinzusetzen, umarmte er Maisie. »Nimm mich ganz fest in die Arme!« Sie schlang die Arme fest um seine Taille.
»Ich liebe dich, Maisie«, sagte er. »Ich habe dich immer geliebt.«
»Ich weiß.«
Er sah ihr in die Augen. Sie waren voller Tränen. Als er sah, wie eine Träne ihr die Wange hinunterrann, küßte er sie fort. »All diese Jahre«, sagte er. »All diese Jahre.«
»Schlaf heute nacht mit mir, Hugh«, sagte sie. Er nickte. »Und von nun an jede Nacht.«
Dann küßte er sie wieder.
Epilog
1892
Todesanzeige aus der Londoner Times:
Nach langer, schwerer Krankheit
verstarb am 30. Mai
an seinem Wohnsitz, in Antibes (Frankreich) der
GRAF VON WHITEHAVEN,
ehemaliger Seniorchef des Bankhauses Pilaster.
»Edward ist tot«, sagte Hugh und sah von der Zeitung auf. Maisie saß neben ihm im Zugabteil. Sie trug ein leuchtendgelbes Sommerkleid mit roten Punkten und einen kleinen Hut mit gelben Taftbändern. Sie waren auf dem Weg nach Windfield zur Abschlußfeier.
»Er war ein verkommenes Schwein«, sagte Maisie, »aber seiner Mutter wird er fehlen.«
Augusta und Edward hatten in den vergangenen achtzehn Monaten gemeinsam in Südfrankreich gelebt. Trotz ihrer Fehler und Vergehen überwies ihnen das Konsortium die gleiche monatliche Zuwendung wie allen anderen Pilasters. Beide waren sie behindert: Edward hatte Syphilis im Endstadium, während Augusta an einem Bandscheibenvorfall litt, der sie den größten Teil ihrer Zeit an den Rollstuhl fesselte. Hugh hatte erfahren, daß sie trotz ihrer Behinderung zur ungekrönten Königin der englischen Gemeinde in jenem Teil der Welt aufgestiegen war. Sie wirkte als Ehestifterin, Schlichterin, Organisatorin von Veranstaltungen sowie als Verkünderin und Hüterin gesellschaftlicher Anstandsregeln. »Er hat seine Mutter sehr geliebt«, sagte Hugh. Maisie sah ihn erstaunt an.
»Warum hebst du das so hervor?«
»Weil mir sonst nichts Gutes über ihn einfällt.« Sie lächelte liebevoll und gab ihm einen Kuß auf die Nase. Stampfend und schnaufend kam der Zug im Bahnhof zum Stehen. Sie stiegen aus. Tobys erstes und Berties letztes Jahr in Windfield gingen zu Ende. Es war ein warmer Sommertag, und die Sonne strahlte vom Himmel. Maisie öffnete ihren Sonnenschirm - er bestand aus dem gleichen gepunkteten Seidenstoff wie ihr Kleid. Den Weg zum Internat legten sie zu Fuß zurück. Seit Hugh vor sechsundzwanzig Jahren von der Schule gegangen war, hatte sich viel verändert. Dr. Poleson, der damalige Rektor, war schon lange tot; im Schulhof erinnerte ein Denkmal an ihn. Sein Nachfolger schwang zwar auch noch den berüchtigten Rohrstock, benützte ihn aber wesentlich seltener. Der Schlafsaal der Viertkläßler befand sich nach wie vor in der ehemaligen Meierei neben der Kapelle, doch gab es inzwischen auch einen Neubau mit einer Aula, in der alle Schüler Platz fänden. Auch der Unterricht war besser geworden: Toby und Bertie lernten neben Latein und Griechisch auch Mathematik und Erdkunde. Sie trafen Bertie vor der Aula. Seit ein oder zwei Jahren war er Hugh über den Kopf gewachsen. Er war ein ernster junger Mann, der fleißig lernte und dessen Betragen nichts zu wünschen übrigließ, weshalb er, anders als seinerzeit Hugh, nicht dauernd in Schwierigkeiten geriet. Das
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