Die Pfeiler des Glaubens
Nur Hernando war einfach »Hernando« – im Dorf machte man sich deshalb oft über ihn lustig und verspottete ihn als den »Nazarener«.
Beim Gedanken daran verlangsamte der Junge seinen Schritt. Er war kein Nazarener! Er fegte mit dem Fuß einige Steine vom Weg und ging dann weiter in Richtung seines Zuhauses, das außerhalb des eigentlichen Dorfes lag. Dort hatte seine Familie genügend Platz gefunden, um eine zusätzliche Hütte zu bauen, die als Stall für die sechs Maultiere diente, mit denen sein Stiefvater durch die Alpujarras zog – sowie für das siebte, Hernandos Lieblingstier: die gute Alte.
Vor etwa einem Jahr hatte seine Mutter ihm den Grund für den verhassten Spitznamen erklärt. Er hatte seinem Stiefvater Ibrahim – »José« für die Christen – eines Morgens bei Sonnenaufgang gehol fen, die Maultiere aufzuzäumen. Nach getaner Arbeit, als er sich mit einem sanften Klaps von der Alten verabschiedet hatte, warf ihn plötzlich eine heftige Ohrfeige zu Boden.
»Du Christenhund!«, schrie Ibrahim zornig. Der Junge schüttelte sich, um wieder zu sich zu kommen. Er glaubte hinter dem Stiefvater seine Mutter zu erkennen, wie sie mit gesenktem Haupt im Haus verschwand. »Du hast dem Tier den Sattelgurt falsch angelegt!«, brüllte Ibrahim. »Soll es sich unterwegs etwa wund reiben und dann nicht mehr arbeiten können? Du bist wirklich ein nutzloser Nazarener.« Ibrahim spuckte auf den Boden. »Du bist und bleibst ein Christenbastard.«
Hernando floh vor seinem Stiefvater und versteckte sich in einer Ecke des Stalls. Sobald das Hufklappern der Lasttierkolonne Ibrahims Aufbruch verkündete, erschien seine Mutter Aischa in der Hütte und brachte ihm einen Becher mit Limonade.
»Tut’s noch weh?«, fragte sie, kniete vor ihm nieder und fuhr ihm zärtlich durchs Haar.
»Warum sagen alle › Nazarener ‹ zu mir?«, schluchzte Hernando. Aischa schloss angesichts der Tränen ihres Sohns kurz die Augen und versuchte dann liebevoll, sein Gesicht zu trocknen. Hernando sah sie an. »Warum?«
»Einverstanden, du bist jetzt alt genug.« Aischa nickte kurz, setzte sich neben ihn auf den Boden und holte tief Luft. »Weißt du, vor etwas mehr als vierzehn Jahren hat sich der Pfarrer meines Heimatdorfes in Almería an mir vergangen …« Hernando sprang auf und starrte sie entsetzt an. »Ja, mein Junge. Ich schrie und wehrte mich, so wie es unsere Gesetze vorschreiben. Aber der Priester war so kräftig. Er hat mich weit außerhalb des Dorfes angesprochen, mitten auf dem Feld, am späten Vormittag. Es war ein sonniger Tag …«, erinnerte sie sich. »Dann …«, ihre Miene verfinsterte sich. »Ich war doch vollkommen hilflos!«, brach es aus ihr heraus. »Er hat meine Kleider mit einer einzigen Handbewegung zerrissen. Dann hat er mich auf den Boden gedrückt und …«
Aischa kehrte schwer atmend in die Gegenwart zurück und begegnete dem Blick ihres Sohnes.
»Du bist das Ergebnis dieser Schändung«, flüsterte sie. »Sie nennen dich den Nazarener, weil dein Vater ein christlicher Prediger ist. Es ist alles meine Schuld …«
Hernando brach erneut in Tränen aus. Auch Aischa kämpfte gegen den Strom der eigenen Tränen. Der Becher mit Limonade glitt ihr aus der Hand, als sie ihrem Sohn in die Arme fiel.
Die junge Aischa hatte mit den Hilfeschreien damals zwar ihre Ehre gerettet, aber als ihre Schwangerschaft offensichtlich wurde, suchte ihr Vater, ein einfacher Maultiertreiber, nach einem Weg, die Schande nicht fortwährend ansehen zu müssen. Die Lösung fand er in Ibrahim, einem jungen, gut aussehenden Maultiertreiber aus Juviles, dem er unterwegs des Öfteren begegnet war. Er bot ihm die Hand seiner Tochter und zwei Mulis als Mitgift an: ein Tier für das Mädchen und das andere für das ungeborene Kind. Ibrahim zögerte, aber er war jung, arm und konnte die Tiere gut brauchen. Außerdem, wer sagte denn, dass dieses Wesen jemals das Licht der Welt erblicken würde? Oder vielleicht würde es nicht einmal die ersten Monate überstehen … In dieser Gegend starben viele Kinder kurz nach der Geburt.
Ibrahim widerte die Vorstellung zwar an, dass ein Priester Aischa geschändet hatte, aber er ließ sich auf den Handel ein und nahm sie mit zu sich nach Juviles.
Doch Hernando kam als kräftiger Säugling zur Welt, noch dazu mit den blauen Augen des Priesters. Die Umstände seiner Zeugung kamen schnell ans Licht, und die Dorfbewohner hatten zwar Mitleid mit der jungen Frau, nicht aber mit dem Kind. Ihre Verachtung
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