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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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beispielsweise, dass die erste Schicht der Sehrinde Linien feststellt – größtenteils Ränder. Die Neuronen sind in lokalen Flecken angeordnet, »Hyperkolumnen«, das sind Ansammlungen von Zellen, welche auf Linien reagieren, die in acht verschiedenen Richtungen orientiert sind. Innerhalb einer Hyperkolumne sind alle Verbindungen prohibitiv, das heißt, wenn ein Neuron glaubt, einen Rand in der Ausrichtung gesehen zu haben, für die es empfindlich ist, dann versucht es alle anderen Neuronen daran zu hindern, überhaupt etwas wahrzunehmen. Im Ergebnis wird die Ausrichtung eines Randes durch Mehrheitsbeschluss festgestellt. Zusätzlich gibt es noch Fernverbindungen zwischen Hyperkolumnen. Diese sind exzitativ, und sie bewirken, dass benachbarte Hyperkolumnen dahingehend beeinflusst werden, dass sie die Fortsetzung dieses Randes wahrnehmen, sogar wenn das bei ihnen eintreffende Signal zu schwach oder mehrdeutig ist, um ohne Unterstützung zu diesem Schluss zu führen. Der Einfluss kann überwunden werden, wenn es hinreichend starke Anzeichen für einen anders orientierten Rand gibt; wenn die Linie aber schwach wird oder ein Teil davon fehlt, lässt der Einfluss das Hirn automatisch so reagieren, als ob die Linie sich fortsetzen würde. Das Gehirn füllt also keine Lücken auf: Es ist darauf eingerichtet, gar nicht zu bemerken, dass es Lücken gibt. Das ist nur eine Schicht der Sehrinde, und sie verwendet einen ziemlich einfachen Trick: Extrapolation. Wir haben bisher kaum Vorstellungen, was in den tieferen Schichten des Hirns an Rätselraten vor sich geht, doch wir können sicher sein, dass es noch raffinierter ist, denn es erzeugt den lebhaften Eindruck eines vollständiges Bildes.
    Wie ist es mit dem Hören? Wie verhält es sich zum Schall? Die übliche Lüge-für-Kinder besagt, dass Hornhaut und Linse ein Bild auf der Netzhaut erzeugen und dass dies angeblich das Sehen erklärt. In ähnlicher Weise konzentriert sich die entsprechende Lüge-für-Kinder über das Hören auf einen Teil des Ohres namens Schnecke, deren Struktur angeblich erklärt, wie man Schall nach verschiedenen Noten analysiert. Im Querschnitt sieht die Schnecke wie ein Schneckenhaus aus, und der Lüge-für-Kinder zufolge sind die ganze Spirale entlang Haare an einer gestimmten Membrane befestigt. Verschiedene Teile der Schnecke vibrieren also mit verschiedenen Frequenzen, und das Hirn stellt fest, welche Frequenz – welche musikalische Note – es empfängt, indem es erfährt, welcher Teil der Membrane schwingt. Zur Unterstützung dieser Erklärung erzählt man uns eine hübsche Geschichte von Kesselschmieden, deren Gehör oft durch den Lärm in ihren Fabriken Schaden nahm. Angeblich konnten sie alle Frequenzen mit Ausnahme derer hören, die in der Nähe der Frequenz lagen, die beim Kesselschmieden am häufigsten vorkam. Es war also nur eine Stelle in ihrer Gehörschnecke ausgebrannt, der Rest war in Ordnung. Das bewies natürlich, dass die »Stellen«-Theorie des Hörens richtig war.
    In Wahrheit sagt diese Geschichte nur, wie das Ohr Noten unterscheiden kann, nicht , wie man den Schall hört. Um das zu erklären, wird für gewöhnlich der Hörnerv herangezogen, der die Schnecke mit dem Hirn verbindet. Es gibt jedoch ebenso viele oder mehr Verbindungen, die in die Gegenrichtung verlaufen, vom Hirn zur Schnecke. Man muss dem Ohr sagen, was es hören soll.
    Nachdem wir nun tatsächlich beobachten können, was die Schnecke beim Hören tut, stellen wir fest, dass für jede Frequenz nicht eine Stelle vibriert, sondern eher zwanzig. Und diese Stellen verschieben sich, wenn man die Ohrmuschel biegt. Die Schnecke ist phasenempfindlich, sie kann die Art Unterschied herausfinden, wie er zwischen einem »Uh« und einem »Ih« bei gleicher Frequenz besteht. Das ist die Art Unterschied, die Sie dem Klang mitteilen, wenn Sie beim Sprechen die Form des Mundes verändern. Und welche Überraschung – das ist genau der Unterschied, den die Schnecke – nach Ihrem äußeren Ohr und Ihrem speziellen Hörkanal, Ihrem speziellen Trommelfell und jenen drei kleinen Knochen – am besten feststellen kann. Eine Aufzeichnung vom Trommelfell eines anderen Menschen, an Ihrem Trommelfell abgespielt, hat wenig Sinn. Sie haben Ihre Ohren erlernt. Aber Sie haben sie auch etwas gelehrt.
    Es gibt ungefähr siebzig Grundklänge, Phoneme genannt, die Homo sapiens beim Sprechen verwendet. Bis zum Alter von etwa sechs Monaten kann ein jedes Menschenbaby alle diese Phoneme

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