Die Philosophen der Rundwelt
Veränderungen in der europäischen Musik von gregorianischen Gesängen bis zu Bachs Wohltemperiertem Klavier .
Dies ist die Lage des menschlichen Geistes: einerseits den Gesetzen der Physik und den biologischen Imperativen der Evolution unterworfen, andererseits ein kleines Rädchen in der gewaltigen Maschine der menschlichen Gesellschaft. Unsere Vorliebe für Musik ist aus der Wechselwirkung dieser beiden Einflüsse entstanden. Darum hat Musik deutliche Elemente mathematischer Muster, doch für gewöhnlich ist sie am besten, wenn sie das Musterbuch wegwirft und Elemente der menschlichen Kultur und des Gefühls anspricht, die – zumindest vorerst – das Verständnis der Wissenschaft überschreiten.
Wir wollen auf den Erdboden zurückkommen und eine einfachere Frage stellen. Die Brunnen der menschlichen Kreativität reichen tief, doch wenn man zu viel Wasser aus einem Brunnen nimmt, versiegt er. Als Beethoven erst einmal die ersten Noten seiner Fünften Sinfonie geschrieben hatte – da-da-da-DAH –, blieb allen anderen eine Melodie weniger übrig. Angesichts der Menge an Musik, die im Laufe der Jahrhunderte komponiert worden ist, sind vielleicht die meisten von den besten Melodien schon gefunden worden. Werden die Komponisten der Zukunft hinter denen der Vergangenheit zurückstehen müssen, weil ihnen die Melodien ausgehen?
Zu einem Musikstück gehört natürlich viel mehr als nur die Melodie. Es gibt Rhythmus, Textur, Harmonie, Entwicklung … Doch sogar Beethoven wusste, dass nichts über ein gutes Motiv geht, um die Komposition in Gang zu bringen. Mit Motiv – der Kenner sagt auch »Phrase« – meinen wir einen relativ kurzen Abschnitt Musik, etwa bis zu dreißig Noten Länge. Motive sind wichtig, weil sie die Bausteine für alles andere sind, sei es Beethoven oder Boyzone. Ein Komponist in einer Welt, wo es an Motiven mangelt, ist wie ein Architekt in einer Welt ohne Ziegel.
Mathematisch ist ein Motiv eine Folge von Noten, und das Ensemble aller derartigen Folgen bildet einen Phasenraum: einen konzeptuellen Katalog, der nicht nur alle geschriebenen Motive enthält, sondern alle, die jemals geschrieben werden könnten. Wie groß ist der M-Raum?
Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man als Motiv akzeptieren will. Es ist gesagt worden, dass ein Affe, der aufs Geratewohl auf einer Schreibmaschine tippt, irgendwann »Hamlet« schreiben würde, und das ist wahr, falls man gewillt ist, länger zu warten als das gesamte Alter des Universums. Wahr ist auch, dass der Affe vorher eine unglaubliche Menge Flughafen-Romane herstellen wird.* [* Ian hat allerdings einen Freund, einen Ingenieur namens Len Reynolds, dessen Katze es fertig brachte, in seinem Computer »FOR« einzugeben, indem sie über die Tastatur ging. Noch drei Buchstaben, »MAT«, und die Katze hätte seine Festplatte gelöscht.] Im Gegensatz dazu könnte ein Affe, der auf die Tasten eines Klaviers schlägt, wirklich ab und zu ein vernünftiges Melodie-Motiv hervorbringen; also hat es den Anschein, dass der Raum von annehmbar melodischen Motiven ein ordentlich großes Stück vom Raum aller Motive ist. Und da melden sich nun die Reflexe des Mathematikers zu Wort, und wir können wieder etwas Kombinatorik betreiben.
Um es einfach zu halten, wollen wir nur Musik europäischer Art betrachten, die auf einer Tonleiter von zwölf Tönen basiert. Wir werden die Qualität der Noten ignorieren – ob sie mit Klavier, Geige oder Klangröhren* [* Auch »Gongröhren« genannt, seit Mike Oldfield aber auch im Deutschen oft »tubular bells«. – Anm. d. Übers. ] gespielt werden –, es zählt nur ihre Reihenfolge. Wir werden ignorieren, ob die Note laut oder leise gespielt wird, und ebenso – was schwerer wiegt – alle Fragen der zeitlichen Einteilung. Schließlich wollen wir die Noten auf zwei Oktaven begrenzen, insgesamt 25 Noten. Natürlich ist das alles in wirklicher Musik wichtig, doch wenn wir es berücksichtigen, bewirkt es eine höhere Anzahl aller möglichen Motive. Unsere Antwort wird zu niedrig geschätzt sein, und das kann nicht schaden, denn sie wird sich als riesig erweisen. Wirklich, wirklich riesig , ja? Nein, noch größer.
Für unseren vorläufigen Zweck ist ein Motiv also eine Folge von 30 oder weniger Noten, von denen jede aus 25 Möglichkeiten gewählt wird. Wir können die Anzahl der Motive auf dieselbe Art berechnen, wie wir die Anordnungen von Autos oder DNS-Basen ermittelt haben. Die Anzahl der Folgen von dreißig Noten
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