Die Philosophen der Rundwelt
ein Codebuchstabe verändert wird, zum Beispiel infolge eines Kopierfehlers. Oder eines einfallenden hochenergetischen kosmischen Strahls. Viren insbesondere mutieren derart schnell, dass es nicht viel Sinn hat, von einer Virenart als etwas Feststehendem zu sprechen. Stattdessen sprechen die Biologen von Quasi-Arten und stellen sie sich als Anhäufungen verwandter Sequenzen im DNS-Raum vor. Die Anhäufungen schweifen im Laufe der Zeit umher, bleiben aber als Anhäufungen beisammen, sodass das Virus seine Identität behalten kann.
In der ganzen Geschichte der Menschheit hat es insgesamt nicht mehr als rund 20 Milliarden Menschen gegeben, eine Zahl mit gerade mal elf Stellen. Das ist ein unglaublich winziger Bruchteil all jener Möglichkeiten. Also haben die wirklich existierenden Menschen einen äußerst winzigen Abschnitt des DNS-Raums erschlossen, wie die wirklich existierenden Bücher einen äußerst winzigen Abschnitt des B-Raums bilden. Die interessanten Fragen liegen natürlich nicht derart auf der Hand. Die meisten Buchstabenfolgen bilden kein sinnvolles Buch; die meisten DNS-Sequenzen entsprechen keinem lebensfähigen Organismus, geschweige denn einem Menschen.
Und jetzt kommen wir zum Knackpunkt bei Phasenräumen. In der Physik ist es vernünftig anzunehmen, dass der passende Phasenraum »vorgegeben« werden kann, ehe man die Fragen nach dem zugehörigen System verfolgt. Wir können uns vorstellen, in jenem imaginären Raum die Himmelskörper des Sonnensystems in jeder beliebigen Konfiguration anzuordnen. Wir haben nicht die technischen Hilfsmittel dazu, aber wir können uns ohne weiteres vorstellen, wie es wäre, und sehen keinen physikalischen Grund, eine bestimmte Konfiguration von der Betrachtung auszuschließen.
Beim DNS-Raum jedoch betreffen die wichtigen Fragen nicht die Gesamtheit jenes riesigen Raums aus allen möglichen Sequenzen. Fast alle dieser Sequenzen entsprechen überhaupt keinem Organismus, nicht einmal einem toten. Was wir wirklich betrachten müssen, ist »realisierbarer DNS-Raum«, der Raum aller DNS-Sequenzen, die in einem Organismus verwirklicht sein könnten. Das ist ein ungeheuer komplizierter, aber sehr schmaler Teil des DNS-Raums, und wir können ihn nicht bestimmen. Wir wissen nicht, wie man eine hypothetische DNS-Sequenz betrachten und feststellen könnte, ob sie in einem realisierbaren Organismus tatsächlich vorkommen mag.
Dasselbe Problem taucht im Zusammenhang mit dem B-Raum auf, aber es gibt einen Unterschied. Ein gebildeter Mensch kann eine Folge von Buchstaben und Leerräumen betrachten und feststellen, ob sie eine Geschichte bildet; er weiß, wie man den Code »liest« und seine Bedeutung herausfindet, wenn er die Sprache versteht. Er kann sogar riskieren zu entscheiden, ob es eine gute Geschichte oder eine schlechte ist. Wir wissen jedoch nicht, wie man diese Fähigkeit auf einen Computer überträgt. Die Regeln, denen unser Geist folgt, um zu entscheiden, ob das Gelesene eine Geschichte ist, sind in den Netzen von Nervenzellen unseres Gehirns implizit enthalten. Bisher hat es niemand geschafft, diese Regeln explizit zu machen. Wir wissen nicht, wie man die Untermenge der »lesbaren Bücher« im B-Raum charakterisiert .
Für die DNS ist das Problem noch erschwert, denn es gibt keine feststehende Regel, die den DNS-Code in einen Organismus »übersetzt«. Biologen hatten immer gedacht, es würde eine solche Regel geben, und hatten große Hoffnungen darein gesetzt, die damit verbundene »Sprache« zu lernen. Dann wäre die DNS für einen (potenziell) echten Organismus eine Codesequenz, die eine zusammenhängende Geschichte von biologischer Entwicklung erzählen würde, und alle anderen DNS-Sequenzen wären sinnloses Gestammel. Im Grunde erwarteten die Biologen, sie könnten die DNS-Sequenz eines Tigers betrachten und sehen , welches Stück die Streifen festlegt, welche die Krallen und so weiter.
Das war etwas zu optimistisch. Der gegenwärtige Stand der Dinge ist, dass wir das Stück DNS sehen können, welches die Proteine festlegt, aus denen die Krallen bestehen, oder die Stücke, die orangefarbene, schwarze und weiße Pigmente hervorbringen, die in den Streifen erscheinen, aber das ist so ziemlich alles, was wir bisher von der Erzählung der DNS verstanden haben. Es wird allmählich klar, dass auch viele nicht-genetische Faktoren ins Wachstum eines Organismus einfließen, sodass es vielleicht nicht einmal im Prinzip eine »Sprache« gibt, die DNS in Lebewesen
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