Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
waren. Kauffman führt daher aus, eine entscheidende Eigenschaft der Biosphäre sei die Unmöglichkeit, einen Phasenraum für sie von vornherein festzulegen.
    Auf die Gefahr hin, Verwirrung zu stiften, lohnt es sich festzustellen, dass sogar in der Physik das Festlegen des Phasenraums von vornherein keine so geradlinige Sache ist, wie es scheinen könnte. Was passiert mit dem Phasenraum des Sonnensystems, wenn wir zulassen, dass Körper zerfallen oder verschmelzen? Man nimmt an* [* Siehe Die Gelehrten der Scheibenwelt im Kapitel »Ein gewaltiger Sprung für die Mondheit«.], dass der Mond von der Erde abgeschlagen wurde, als die Erde mit einem Körper etwa von der Größe des Mars zusammenstieß. Vor diesem Ereignis gab es im Phasenraum keine Mond-Koordinaten, danach gab es sie. Also erweiterte sich der Phasenraum, als der Mond entstand. Die Phasenräume der Physik gehen immer von einem feststehenden Kontext aus. In der Physik kommt man mit dieser Annahme meistens durch. In der Biologie nicht.
    Es gibt noch ein zweites Problem in der Physik. Jener 6 n -dimensionale Phasenraum der Thermodynamik beispielsweise ist zu groß. Er enthält nicht-physikalische Zustände. Infolge einer Merkwürdigkeit der Mathematik schreiben die Bewegungsgesetze für elastische Kugeln nicht vor, was geschieht, wenn drei oder mehr gleichzeitig zusammenstoßen. Also müssen wir aus diesem hübschen, einfachen 6 n -dimensionalen Raum alle Konfigurationen aussondern, bei denen irgendwo in Vergangenheit oder Zukunft eine Dreifachkollision vorkommt. Wir wissen viererlei über diese Konfigurationen. Sie sind sehr selten. Sie können vorkommen. Sie bilden eine extrem komplizierte Wolke im Phasenraum. Und es ist in jedem praktischen Sinn unmöglich festzustellen, ob eine gegebene Konfiguration ausgeschlossen werden sollte oder nicht. Wenn diese unphysikalischen Zustände etwas öfter vorkämen, wäre der thermodynamische Phasenraum ebenso schwer im Voraus festzulegen wie der für die Biosphäre. Sie machen jedoch einen verschwindend geringen Anteil am Ganzen aus, sodass wir damit durchkommen, wenn wir sie einfach ignorieren.
    Nichtsdestoweniger ist es durchaus möglich, der Vorgabe eines Phasenraums für die Biosphäre etwas näher zu kommen. Wir können keinen Raum für alle möglichen Organismen vorgeben, wir können aber einen gegebenen Organismus betrachten und zumindest im Prinzip sagen, welche potenziellen unmittelbaren Veränderungen es gäbe. Das heißt, wir können den Raum der angrenzenden Möglichkeiten beschreiben, den lokalen Phasenraum. Neuerung heißt dann, in die angrenzenden Möglichkeiten vorzudringen. Das ist eine plausible und ziemlich konventionelle Idee. Kauffman äußert aber die kühnere und aufregende Vermutung, es könne allgemeine Gesetze geben, die diese Art von Vordringen regeln, Gesetze, die genau die gegenteilige Wirkung wie der berühmte Zweite Hauptsatz der Thermodynamik haben. Der Zweite Hauptsatz stellt im Grunde fest, dass thermodynamische Systeme im Lauf der Zeit einfacher werden, die ganze interessante Struktur wird »verschmiert« und verschwindet. Im Gegensatz dazu vermutet Kauffman, dass die Biosphäre mit der größtmöglichen Geschwindigkeit in die angrenzenden Möglichkeiten expandiert, solange der Zusammenhang als biologisches System gewahrt bleibt. Neuerung findet in der Biologie so schnell wie möglich statt.
    Allgemeiner weitet Kauffman diesen Gedanken auf alle Systeme aus, die aus »autonomen Agenzien« bestehen. Ein autonomes Agens ist eine verallgemeinerte Lebensform, definiert durch zwei Eigenschaften: Sie kann sich fortpflanzen, und sie kann mindestens einen thermodynamischen Arbeitszyklus ausführen. Ein Arbeitszyklus liegt vor, wenn ein System Arbeit verrichten und in seinen Ausgangszustand zurückkehren kann, bereit, die gleiche Arbeit abermals zu tun. Das heißt, das System entnimmt seiner Umwelt Energie und setzt sie in Arbeit um, und das so, dass es am Ende des Zyklus in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehrt.
    Ein Mensch ist ein autonomes Agens, ein Tiger ebenso. Eine Flamme ist keins: Flammen pflanzen sich fort, indem sie sich auf brennbares Material in der Nähe ausbreiten, doch sie führen keinen Arbeits zyklus durch. Sie verwandeln chemische Energie in Feuer, aber wenn etwas verbrannt ist, kann es nicht ein zweites Mal verbrannt werden.
    Diese Theorie der autonomen Agenzien ist ausdrücklich in den Kontext von Phasenräumen gestellt. Ohne solch ein Konzept kann sie nicht einmal

Weitere Kostenlose Bücher