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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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übersetzt. Beispielsweise wird Tiger-DNS nur dann zu einem Tigerbaby, wenn eine Eizelle zugegen ist, welche die Tigermutter liefert. Wäre eine Mungo-Eizelle zugegen, würde dieselbe DNS überhaupt keinen Tiger ergeben.
    Nun könnte das einfach nur ein technisches Problem sein: dass es für jeden DNS-Code eine unverwechselbare Art von Mutter-Organismus gibt, der aus ihm ein Lebewesen macht, sodass die Gestalt des Wesens implizit doch noch im Code enthalten wäre. Aber zumindest theoretisch könnte derselbe DNS-Code zwei völlig verschiedene Organismen ergeben. Wir geben dafür ein Beispiel in The Collapse of Chaos*  [*  The Collapse of Chaos (»Der Zusammenbruch des Chaos«) ist ein Buch von Ian Stewart und Jack Cohen. – Anm. d. Übers. ], wo der sich entwickelnde Organismus erst »nachschaut«, in welcher Art Mutter er sich befindet, und sich dann je nachdem, was er sieht, in verschiedene Richtungen weiterentwickelt.
    Stuart Kauffman, der Komplexitäts-Guru, hat diese Schwierigkeit noch etwas weiter getrieben. Er legt dar, dass wir zwar in der Physik erwarten dürfen, den Phasenraum eines Systems im Voraus festzustellen, dass das aber in der Biologie niemals zutrifft. Biologische Systeme sind schöpferischer als physikalische: Die Organisation der Materie in einem Lebewesen ist von anderer qualitativer Natur als die Organisation, die wir bei anorganischer Materie finden. Insbesondere können sich Organismen weiterentwickeln, und dabei werden sie oft komplizierter. Der fischähnliche Vorfahre der Menschen war zum Beispiel weniger kompliziert, als wir es heute sind. (Wir haben hier kein Maß für Komplexität definiert, aber der Satz hat für die meisten denkbaren Komplexitätsmaße Sinn, also wollen wir uns über Definitionen nicht den Kopf zerbrechen.) Die Evolution erhöht die Komplexität nicht notwendigerweise , doch am erstaunlichsten ist sie, wenn sie es tut.
    Kauffman stellt zwei Systeme einander gegenüber. Eins ist das traditionelle thermodynamische Modell in der Physik, bei dem n Gasmoleküle (vorgestellt als harte Kugeln) in ihrem 6 n -dimensionalen Phasenraum hin und her schnellen. Hier kennen wir den Phasenraum im Voraus, wir können die Dynamik exakt feststellen und allgemeine Gesetze ableiten. Darunter findet sich der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass mit weitaus überwiegender Wahrscheinlichkeit das System im Laufe der Zeit ungeordneter wird und sich die Moleküle gleichmäßig in ihrem Behälter verteilen.
    Das zweite System ist die »Biosphäre«, eine sich entwickelnde Ökologie. Hier ist durchaus nicht klar, welchen Phasenraum man verwenden soll. Die zur Wahl stehenden sind entweder viel zu groß oder viel zu beschränkt. Nehmen wir einen Augenblick an, der alte Biologentraum von einer DNS-Sprache für Organismen wäre wahr. Dann könnten wir hoffen, den DNS-Raum als unseren Phasenraum zu verwenden.
    Wie wir jedoch eben gesehen haben, wäre nur eine winzige, kompliziert geformte Untermenge dieses Raums von Interesse – wir können jedoch nicht herausfinden, welche Untermenge. Wenn dann noch hinzukommt, dass es diese Sprache wahrscheinlich gar nicht gibt, zerfällt der ganze Ansatz. Ist andererseits der Phasenraum zu klein, könnten durchaus plausible Veränderungen den Organismus ganz hinausführen. Beispielsweise könnte der Tiger-Raum anhand der Anzahl von Streifen auf dem Körper einer Großkatze definiert werden. Wenn sich aber eines Tages eine Großkatze entwickelt, die statt Streifen Flecke hat, dann ist für sie kein Platz im Tiger-Phasenraum. Klar, es ist kein Tiger … Aber seine Mutter war einer. Wir können diese Art Neuerung nicht sinnvollerweise ausschließen, wenn wir die wirkliche Biologie verstehen wollen.
    Während sich Organismen entwickeln, verändern sie sich. Manchmal kann man die Evolution als Erschließung einer Region im Phasenraum betrachten, die bereit stand, aber nicht von Organismen besetzt war. Wenn sich die Farben und Muster eines Insekts ein wenig ändern, sehen wir nichts als die Erschließung neuer Regionen in einem ziemlich gut definierten »Insekten-Raum«. Wenn aber ein völlig neuer Trick auftaucht, etwa Flügel, scheint sich sogar der Phasenraum verändert zu haben.
    Es ist sehr schwer, das Phänomen der Neuerung in einem mathematischen Modell zu erfassen. Mathematiker legen gern von vornherein den Raum der Möglichkeiten fest, doch der ganze Witz bei Neuerungen ist, dass sie neue Möglichkeiten eröffnen, die zuvor nicht abzusehen

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