Die Philosophen der Rundwelt
als sein Name schließlich herausgefunden worden ist, auf die Dame losspringen, um sie sehr intim zu »stöpseln«, und die versammelten Soldaten können ihn nicht herausziehen. In der modernen »gereinigten« Fassung bleibt davon als Rudiment übrig, dass der kleine Mann seinen Fuß in den Boden stampft und ihn nicht wieder herausziehen kann, eine totale non sequitur . Also kann sich keiner von den Betroffenen – König, Müller, Königin – fortpflanzen (das gestohlene erste Kind haben die Soldaten umgebracht), und es endet alles mit Tränen. Wenn Sie diese Interpretation anzweifeln, dann erfreuen Sie sich doch an folgender Anspielung: »Wie heißt er? Wie heißt er?« wird in der Geschichte immer wieder gefragt. Wie also heißt er? Was ist eine Stelze (stilt) mit runzlig-zerknitterter (rumpled) Haut (skin)? Oh! Der Name lässt sich auch in vielen Sprachen auf entsprechende Art ableiten. (Auf der Scheibenwelt will Nanny Ogg eine Kindergeschichte mit dem Titel »Der kleine Mann, der zu groß wurde« geschrieben haben; aber Frau Ogg glaubt ja immer, dass eine Zweideutigkeit nur eines bedeuten kann.)
Warum mögen wir Geschichten? Warum sind ihre Botschaften so tief in der menschlichen Psyche verankert?
Unser Gehirn hat sich so entwickelt, dass es die Welt anhand von Mustern begreift. Das können visuelle Muster wie Tigerstreifen sein oder akustische wie das Heulen eines Kojoten. Oder Gerüche. Oder Geschmacksempfindungen. Oder erzählte Handlungen. Geschichten sind kleine geistige Modelle der Welt, Folgen von Ideen, die wie Perlen einer Kette aufgereiht sind; jede Perle führt unweigerlich zur nächsten. Wir wissen, dass es auch das zweite kleine Schweinchen erwischen wird – die Welt würde nicht richtig funktionieren, wenn es anders wäre.
Wir gehen nicht nur mit Mustern um, sondern auch mit Meta-Mustern. Mit Mustern von Mustern. Wir schauen zu, wie der Schützenfisch mit Wasserstrahlen Insekten aus der Luft schießt, wir freuen uns, wenn der Elefant seine Nase benutzt, um von Zoobesuchern Kekse zu bekommen (heutzutage leider kaum noch), wir genießen den Flug der Mehlschwalbe (es gibt jetzt weniger Schwalben, an denen man sich erfreuen könnte) und den Gesang von Vögeln im Garten. Wir bewundern das Nest des Webervogels, die Kokons der Seidenraupe, die Geschwindigkeit des Geparden. All diese Dinge sind für die jeweiligen Wesen charakteristisch. Und was ist für uns charakteristisch? Geschichten. Also erfreuen wir uns unter demselben Vorzeichen an Geschichten von Menschen. Wir sind der Geschichten erzählende Schimpanse und wissen die Metapher zu schätzen, die darin steckt.
Als wir sozialer wurden und uns zu Gruppen von hundert oder mehr sammelten, wahrscheinlich mit Aufkommen der Landwirtschaft, tauchten in unserer Extelligenz weitere Geschichten auf, um uns den Weg zu weisen. Wir brauchten Verhaltensregeln, Methoden für den Umgang mit Kranken und Behinderten, Methoden, Gewalt abzuleiten. In frühen und gegenwärtigen Stammesgesellschaften ist alles, was nicht verboten ist, Pflicht. Geschichten weisen auf schwierige Situationen hin, wie die Geschichte vom Guten Samariter im Neuen Testament; auch der Verlorene Sohn ist durch Andeutung lehrreich wie Rumpelstilzchen. Um das deutlich zu machen, folgt eine Erzählung des Haussa-Stammes in Nigeria, »Die Laterne des Blinden«.
Ein junger Mann kommt spät von einem Rendezvous mit seiner Freundin im Nachbardorf zurück, es ist sehr dunkel unter dem Sternenhimmel und der Weg zurück in sein Heimatdorf nicht leicht zu finden. Er sieht eine Laterne auf sich zukommen, doch aus der Nähe stellt er fest, dass der Blinde aus seinem eigenen Dorf sie trägt. »He, Blinder«, sagt er, »du, für den die Dunkelheit nicht dunkler als der Mittag ist! Wozu trägst du eine Laterne?«
»Ich trage diese Laterne nicht um meinetwillen«, sagt der Blinde, »sondern um Dummköpfe mit Augen fern zu halten!«
Als biologische Art haben wir uns nicht nur auf Geschichten spezialisiert. Ganz wie bei den oben erwähnten anderen Spezialitäten weist unsere Art noch ein paar sonderbare Eigenschaften auf. Die wohl merkwürdigste Eigenart, die unser elfischer Beobachter feststellen würde, ist unsere zwanghafte Zuneigung zu Kindern. Uns gehen nicht nur unsere eigenen Kinder nahe, was biologisch durchaus zu erwarten wäre, sondern auch die Kinder aller anderen Leute, sogar die anderer Völkerschaften (oft finden wir fremdartig aussehende Kinder attraktiver als unsere eigenen), ja überhaupt
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