Die Philosophin
als wäre sie dazu verdammt, Roberts Qualen zu teilen, sein Kreuz mit ihm zu tragen wie Simon von Kyrene das Kreuz des Erlösers. Je ein Knecht hatte den Zügel eines Tiers ergriffen, ein anderer stand dahinter und schwang die Peitsche. Das Vierergespann setzte sich in Bewegung. Sophie ahnte das Schnauben der Nüstern, das Schlagen der Hufe, unter deren Eisen die Funken aufstoben – da stürzte eines der Pferde auf das Pflaster nieder.
»Seht nur – seine Arme! Die Arme! Seht doch!«
Sophie ließ die Hände sinken, kraftlos und erschöpft. Das Volk johlte vor Begeisterung. Roberts Muskeln und Sehnen hatten der fürchterlichen Belastung widerstanden. Statt seine Glieder zu brechen, hatten die Tiere sie auf groteske Weise gedehnt – Arme und Beine schienen fast doppelt so lang als zuvor. Wieder zogen die Pferde an, mit aller Kraft, angetrieben durch die Peitschen und das Geschrei, und wieder wurden sie zurückgerissen. Und immer noch war Leben in Roberts geschundenem Leib, Sophie hörte seine Atemstöße, wie den Blasebalg einer Schmiede.
Irgendwann verließ sie das Gefühl für die Zeit. Dauerte es Minuten? Dauerte es Stunden? Oder waren es nur Sekunden in der Hölle der Finsternis? Wie in einem Traum, unwirklich und überwirklich zugleich, geschahen die Dinge vor ihr, die sie mit ihren eigenen Augen sah und doch nicht begreifen konnte, während Tränen der Trauer, der Wut und der Ohnmacht an ihren Wangen herabliefen … Man ließ die Pferde nun in umgekehrter Richtung ziehen, die an den Armen zum Kopf hin und die an den Beinen hin zu den Armen. Der Priester sank ohnmächtig zusammen, der Gerichtsschreiber barg sein Gesicht im Gewand, um nicht länger zusehen zu müssen, während das Volk zu murren begann. Man musste sich sputen, die Dämmerung brach herein. Man spannte zwei weitere Pferde an, zu viert schlugen die Knechte nun auf jedes der Tiere ein. Roberts Knochen krachten in den Gelenken, doch immer noch hielt sein Leib zusammen, als könne keine Kraft der Welt seine Glieder zerreißen.
»Betet für mich!«
Einsam wie ein Ruf in der Wüste wehte Roberts Flehen über die vieltausendköpfige Menge. Sophie fasste nach dem Engel an ihrem Hals, als könne er das Unheil immer noch abwenden. Doch durch den Schleier ihrer Tränen sah sie nur, wie der Henker sich mit dem Richter beriet, worauf der Richter einen Arzt herbeiwinkte, der Arzt einen Chirurgen, bis schließlich alle die Köpfe zusammensteckten, zu fünft, zu sechst, im Dutzend, ohne zu einem Entschluss zu gelangen.
»Was für eine Farce!«, flüsterte die Pompadour mit blutleeren Wangen unter dem Rouge.
»Allerdings«, pflichtete Casanova ihr bei. »Die Exekution sollte zur Abschreckung dienen. Wie ist das in der Dunkelheit möglich?«
Sophie umschloss mit ihrer Hand den Engel. Endlich, endlich hatte man Erbarmen! Mit einem langen, blitzenden Stahlmesser machte der Henker sich ans Werk, Roberts Schultern und Hüften zu zerschneiden, die zähen Sehnen, die seine Qual so lange hinausgezögert hatten. Kühl fühlte der Engel sich an wie die Perlen eines Rosenkranzes. Sophie spürte nicht, wie die Spitzen des Schnitzwerks in ihre Haut eindrangen, sie war mit all ihren Sinnen bei Robert, der ein letztes Mal den Kopf hob, um mit gläsernen Augen auf den Scharfrichter zu stieren, als könne er sich nicht satt sehen an der Arbeit seines Peinigers, betrachtete jede seiner Bewegungen, schaute und schaute, bis seine Schenkel und Schultern durchtrennt waren. Allein die Kraft zu schreien hatte ihn verlassen.
»Gott sei deiner Seele gnädig!«
Sophie küsste den Engel an ihrer Kette und schlug das Kreuzzeichen. Noch einmal legten die Pferde sich ins Geschirr, ein letztes Krachen und Brechen, dann endlich gab Roberts Körper nach, die Gliedmaßen lösten sich vom Rumpf: zuerst ein Arm, dann ein Bein, dann wieder ein Bein und der zweite Arm … Schließlich hatte Robert Damiens sein Leben ausgehaucht, war tot für jetzt und alle Ewigkeit. Nur seine Kinnlade klappte immer noch auf und zu, als wolle er etwas rufen, während seine Augen, zwei gläserne, gesprungene Kugeln, zu Sophie heraufzuschauen schienen.
»Bravo! Bravissimo!«
Wie aus einem Albtraum erwacht, blickte Sophie zur Seite. Mit behandschuhten Händen klatschte Casanova neben ihr Beifall, während die Dame vor ihm am Fenster sich gleichmütig die Röcke richtete, als wolle sie nur den Faltenwurf korrigieren. Freundlich nickte Casanova ihr zu, er wirkte heiter,frisch und ruhig. Plötzlich glaubte Sophie,
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