Die Philosophin
sollte das Glück der Menschen vermehren, und jetzt hat sie so viele Menschen ins Unglück gestürzt. Wer weiß, vielleicht wäre es ohne sie nie zu dieser Katastrophe gekommen.«
»Sie meinen, weil Damiens sich auf ein paar Sätze daraus berufen hat?«
»Ich habe im selben Haus wie er gearbeitet, bei Monsieur Poisson, dem Bruder von Madame.«
»Ich weiß, Sie haben ihn gekannt. Es muss fürchterlich für Sie gewesen sein zuzusehen.«
»Nichts wissen Sie, Monsieur Malesherbes.« Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihn an. »Ich habe Damiens die Enzyklopädie zu lesen gegeben.«
»Sie?«, fragte er überrascht. »Aber wie kamen Sie dazu?«
»Das ist nicht wichtig, ich hatte zufällig ein Exemplar. Ich … ich muss etwas anderes wissen, und ich bitte Sie, mir aufrichtig zu antworten.« Sie machte eine Pause, bevor sie ihre Frage stellte. »Habe ich Mitschuld an seinem Ende?«
Malesherbes schwieg eine lange Weile, bevor er sagte: »Ein Buch ist ein Spiegel, Sophie. Wenn ein Schächer hineinschaut, kann kein Apostel herausblicken. Jeder Leser zieht aus der Lektüre einen anderen Schluss, das habe ich in den Jahren als Zensor gelernt.« Er berührte behutsam ihre Schulter. »Nein, glauben Sie mir, Sie tragen keine Schuld.«
»Aber hätte ich nicht die Folgen voraussehen müssen? Ich kannte Robert doch und wusste, wie fanatisch er war.«
»Wollen Sie Jesus dafür verantwortlich machen, wenn im Namen der Bibel Menschen umgebracht werden? Nein«, wiederholte er, bevor Sophie etwas einwenden konnte, »Bücher sind wie Messer. Man kann damit Brot schneiden oder töten. Aber – was ich Sie schon lange fragen wollte«, wechselte erunvermittelt das Thema, »was ist das für ein Schmuck, den Sie da am Hals tragen?«
»Sie meinen den Engel?«
»Er passt wundervoll zu Ihrem Haar. Darf ich?« Malesherbes griff nach dem Schmuckstück, um es zu betrachten. »Aus was für einem Material ist das? Elfenbein?«
»Ich weiß nicht – es ist nur ein Talisman. Er stammt aus meiner Heimat. Das einzige Andenken, das ich von dort habe.«
»Ein Talisman?«, fragte er irritiert.
»Ja, was ist daran Besonderes?«
»Nichts, natürlich nichts«, stammelte er, immer noch verwirrt. »Es ist nur, in meiner Heimat gibt es ganz ähnliche.«
Er ließ den Engel los und schaute sie an, gleichzeitig verlegen und forschend, musterte sie mit seinen grauen Augen genauso wie bei ihrer ersten Begegnung, als suche er in ihrem Gesicht nach etwas, von dem er selbst nur undeutlich ahnte, was es war.
»Ich habe noch eine Frage, Sophie«, sagte er schließlich. »Sie haben mir nie verraten, woher Sie stammen.«
»Sie werden den Ort nicht kennen, es ist nur ein ganz kleines Dorf. Beaulieu heißt es und liegt an der Loire.«
»Beaulieu bei Roanne? Aber natürlich kenne ich das, es ist ja nur einen Tagesritt vom Schloss meiner Familie entfernt. Seltsam, dass ich es nicht an Ihrer Sprache erkannt habe, Sie haben nicht die Spur eines Akzents. Fast muss man glauben, Sie würden Ihre Herkunft verleugnen.«
Plötzlich wurde seine Miene sehr ernst; sein Mund zuckte einige Male, als falle es ihm schwer zu sprechen, ja, als müsse er sich überwinden. Dann aber sagte er: »Was ist der Grund, Sophie, dass Sie an Damiens’ Schicksal solchen Anteil nehmen?«Und als sie zögerte. »Ich habe doch Recht, es gibt einen Grund, einen besonderen Grund, nicht wahr?«
Sophie spürte, wie die ganze Flut der Erinnerung in ihr aufwallte, all die Bilder und Gefühle, die sie seit Tagen unterdrückt hatte, aus Angst, sie würden sie übermannen.
»Es war nicht die erste Hinrichtung in meinem Leben«, antwortete sie stockend. »Ich habe schon einmal eine mit ansehen müssen, in meiner Kindheit … Auch damals war ein Buch der Grund, warum ein Mensch sterben musste.«
»Wer war dieser Mensch?«, fragte er leise. »Jemand, der Ihnen nahe stand?«
Sophie wandte sich ab. Alles war wieder da in ihr, mehr als sie ertragen konnte, drängte danach, aus ihr hervorzubrechen. Und während sie in den dunklen Garten schaute, strömten die Worte über ihre Lippen, Worte, die ihr ganzes Leben bedeuteten, das Glück und die Verzweiflung, die Liebe und den Tod und die ewige Sehnsucht, endlich zu verstehen, was nicht zu verstehen war – ihr Leben. Sie erzählte von ihrer Mutter, von ihrer Kindheit, von ihrem kleinen Haus am Dorfrand. Wie Madeleine für sie gesorgt und sie beschützt und ihr das Lesen beigebracht hatte, bis zum Tag ihrer Erstkommunion. Sie erzählte von Abbé Morel, von
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